Recherche 29. August 2022, von Katharina Kilchenmann, Mirjam Messerli

Die Würde der Nutztiere und die Wünsche der Kunden

Abstimmung

Iris Menn von Greenpeace Schweiz will die Massentierhaltung verbieten. Bauernverbandspräsident Markus Ritter hingegen sagt, dass es diese in der Schweiz ja gar nicht gebe.

Die Massentierhaltungsinitiative weckt überdurchschnittlich starke Emotionen. Warum?

Markus Ritter: Tiere interessieren die Menschen. Wir haben 1,3 Millionen Katzen in der Schweiz, 600 000 Hunde und viele Nutztiere. Alle sind wir im Alltag mit Tieren in Kontakt. Zudem geht es bei der Initiative ums Essen, um Natur, um Biodiversität. Diese Themen betreffen uns alle.

Iris Menn: Bei der Massentierhaltungsinitiative geht es einerseits um die Würde des Tieres und um den Respekt, den wir Nutztieren entgegenbringen. Andererseits reagieren wir mit der Vorlage auch auf die Klimakrise und den Rückgang an Biodiversität. Das heisst, wir reden hier über unsere Lebensgrundlage und darüber, wie wir jetzt und in Zukunft Tiere halten und Tierprodukte erzeugen wollen. Das soll auch emotional sein.

Haustiere werden gehätschelt. Bei Nutztieren scheint es vielen egal zu sein, ob sie genug Platz, Beschäftigung und Bewegung hatten, bevor sie getötet werden. Weshalb gibt es diese Zwei-Klassen-Tierliebe

Ritter: Sich um ein einzelnes Haustier zu kümmern, ist einfacher, als 100 Schweine zu halten. Da kann man nicht jedes Tier individuell betreuen. Bei der Nutztierhaltung müssen die Bedingungen so sein, dass die Tiere gesund sind und gedeihen. Das wird auch regelmässig kontrolliert. Bei den Haustierhalterinnen und -haltern gibt es sehr wenige Kontrollen. Missstände können unentdeckt bleiben.

Menn: Haustiere sind oft ein Teil der Familie. Wir kümmern uns direkt um sie. Anders sieht es bei der Tierproduktion aus: Davon sehen wir nur, was wir sehen wollen oder sollen. Die Werbung zeigt, wie Hühner draussen im Stroh scharren oder Schweine auf einer Wiese herumtollen. Das suggeriert ein Bild der Schweizer Landwirtschaft, das oft nicht der Realität entspricht. Wir werden gezielt manipuliert.

Ritter: Da muss ich widersprechen. Hierzulande gibt es viele Betriebe, in denen die Tiere tatsächlich Familienanschluss haben. So etwa auch auf unserem Hof

Iris Menn ist Geschäftsleiterin bei Greenpeace Schweiz. Seit ihrer Jugend ist sie für den Umwelt- und Naturschutz engagiert. Sie studierte Biologie und war als Meeresbiologin auf der Nordseeinsel Sylt tätig.

Markus Ritter ist Biobauer auf seinem eigenen Landwirtschaftsbetrieb in Altstätten, studierter Wirtschaftsingenieur, seit 2011 ist er Nationalrat (Die Mitte, SG), seit 10 Jahren Präsident des Bauernverbands.

Sie führen auch keinen konventionellen, sondern einen Biobetrieb.

Ritter: In der Schweiz ist auch auf konventionellen Betrieben die Betreuung der Tiere sehr gut. Die Ini--tiative verlangt, dass bei uns die Bioproduktion als Standard festgelegt wird. Das ist weder im Sinn der Landwirtschaft noch der Kundschaft. Somit müssten auch Importprodukte Biostandard haben, und nicht alle können sich teure Bioprodukte leisten. Das würde den Einkaufstourismus stark anheizen.

Menn: Die Polarisierung auf die beiden Enden, Produzentin und Konsument, versperrt die Sicht auf das Wesentliche. Wir sollten vielmehr die gesamte Produktionskette anschauen. Also auch die Futtermittelproduzenten und -händler oder die Grossverteiler. Diese beeinflussen die Produktion und die Preise wesentlich. Ebenso treibt die Politik mit ihrer Absatzförderung den Fleischkonsum an.

Die Würde der Tiere wird in Grossbetrieben auch hierzulande systematisch missachtet.
Iris Menn, Geschäftsführerin Greenpeace

Die Initiativgegner sagen, dass es in der Schweiz gar keine Massentierhaltung gebe.

Ritter: Genau. Wir sind das einzige Land weltweit, das eine Höchstbe-standesverordnung hat. Und wir haben deutlich kleinere Bestände als in der EU. So darf hierzulande ein Betrieb maximal 1500 Mastschweine halten. In Deutschland gibt es Höfe mit 60 000 Schweinen. Oder: In der Schweiz haben durchschnittliche Betriebe 7900 Masthühner. In umliegenden Ländern leben auf den Betrieben oft 50 000 bis 100 000 Hühner. Wir haben ein Tierschutzgesetz, das weltweit einzigartig ist. Darauf können wir stolz sein.

Menn: Da muss nun ich widersprechen. In der Schweiz gibt es sehr wohl Massentierhaltung. Richtig ist, dass die Schweiz das einzige Land ist, das die Würde der Tiere in der Verfassung festgeschrieben hat. Und ja, wir haben ein gutes Tierschutzgesetz. Aber auf dessen Umsetzung können wir nicht stolz sein. Denn auch hierzulande wird die Würde der Tiere systematisch missachtet. Dies in den technisierten Grossbetrieben. In einem solchen Betrieb leben dann beispielsweise 27 000 Masthühner oder 1500 Schweine. Das ist Massentierhaltung.

Darf man als gläubiger Christ Tiere halten, um sie zu essen?

Ritter: Als Christen sollen wir verantwortungsvoll mit der Schöpfung umgehen. Die Tiere sind uns anvertraut. Wir können nur mit Rindern, Schafen und Ziegen die Grasflächen so nutzen, dass wir Produkte wie Milch und Fleisch bekommen, die für unsere Ernährung dienen. Gerade in der Bibel spielen Nutztiere immer wieder eine wichtige Rolle.  

Wir haben ein Tierschutzgesetz, das weltweit einzigartig ist. Darauf können wir stolz sein.
Markus Ritter, Präsident Bauernverband

Was denken Sie, Frau Menn?

Menn: Die Aufforderung in der Genesis «Macht euch die Erde untertan» bedeutet aber auch: Wir Menschen sind in der Verantwortung, eine lebensspendende Ordnung zu schaffen, die zum Besten aller Lebewesen ist. Nur wenn wir uns als Teil der Natur verstehen, können wir die Landwirtschaft zukunftsgerichtet weiterentwickeln.

Ritter: Aber das tun wir doch längst. Die allermeisten Bäuerinnen und Bauern in der Schweiz sind sich dessen absolut bewusst und führen ihre Betriebe mit einem hohen ökologischen Anspruch. Dafür braucht es keine staatliche Planwirtschaft. Die Landwirtschaft muss das anbieten, was die Konsumenten essen wollen: Milchprodukte, Eier, Fleisch zu einem vernünftigen Preis. Ansonsten wird es im Ausland produziert und importiert. Wir können weder den Grossverteilern die Preise diktieren noch den Konsumentinnen und Konsumenten Produkte aufzwingen, die sie nicht wollen.

Vielleicht müsste diskutiert werden, ob in der Schweiz tatsächlich jährlich pro Kopf 50 Kilogramm Fleisch verzehrt werden müssen.

Ritter: Damit sind wir bei der unbeantwortbaren Frage, ob zuerst das Huhn oder das Ei war. In der Schweiz wird seit Jahren die Landwirtschaft immer stärker reguliert, weil man glaubt, damit andere Probleme lösen zu können. Im Moment hat die Bioproduktion zwölf Prozent Marktanteil. Mit der Vorgabe der Initiative, im tierischen Bereich nur noch biologisch zu produzieren, sind wir offensichtlich weit weg vom aktuellen Kaufverhalten.

Menn: Von den rund 55 000 Betrieben wären bei einem Ja zur Initiative rund 3000 Grossbetriebe betroffen. Dort leben Masthühner auf der Fläche eines A4-Blattes und sehen zeitlebens nie den Himmel. Tierfutter muss importiert werden, was zu Abhängigkeit vom Ausland führt. Das Ernährungssystem und unsere tiergetriebene Esskultur sind nicht zukunftsfähig. Ja – 50 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr, das ist zu viel.

Initiative gegen Massentierhaltung

Die Schweizer Stimmbevölkerung stimmt am 25. September über einen strengeren Tierschutz ab. Die Initiative fordert eine Verbesserung der Haltung von Nutztieren wie Schweinen und Hühnern. Neu müssten diese mindestens nach den Bio-Suisse-Standards von 2018 gehalten werden. Dabei würde den Betrieben eine Übergangsfrist von 25 Jahren gewährt. Die Vorgaben gälten auch für importierte Tierprodukte. Bundesrat und Parlament lehnen die Vorlage ab.