Sexarbeit braucht auch eine Lobby

Sexarbeit

Kann Prostitution selbstbestimmt sein? Darüber sind sich auch Frauenrechtsorganisationen uneinig. «reformiert.» traf eine Sexarbeiterin, die seit 30 Jahren Sex verkauft.

Roter Flauschteppich, Doppelbett, Fernseher und ein Spiegelschrank – die Farbe Rot dominiert ein wenig, ansonsten wirkt Katjas* Etablissement konservativ. Nichts deutet darauf hin, dass Männer hier Sex von ihr kaufen. Über 700 Kontakte verwaltet sie in ihrem Arbeitshandy, dem blauen. Das rote ist das Private. «Bei mir gibt es nichts Ausgefallenes. Ich bin keine Domina, auch keine Sklavin. Ich mag es konservativ», sagt sie und lacht. Die Ungarin hat mit 18 Jahren begonnen sich zu prostituieren. Aus Spass, wie sie sagt. Eine Freundin hatte sie dazu animiert, während eines Urlaubs auf Sardinien. «Nachts verdienten wir Geld mit Sex und tagsüber gaben wir es wieder aus. Es war Partyzeit.» Es fiel ihr leicht, den Job als Sekretärin in der Staatsbank in Budapest an den Nagel zu hängen: schlecht behandelt, eine Arbeit mit der sie nie finanziell unabhängig sein würde. Seit acht Jahren arbeitet Katja, 50, in der Schweiz, in Chur in einer gemieteten Einzimmerwohnung in einem gewöhnlichen Wohnquartier. Offiziell ist sie Betreiberin eines Kosmetiksalons, obwohl Sexarbeit in der Schweiz legal ist. Sie vermutet weniger Umtriebe, wenn der Vermieter ihren wahren Beruf nicht kennt. Der Familie verschweigt sie ihn. «Sie würden es nicht verstehen.» Auch ihr Freund in Ungarn denkt, dass sie in der Schweiz als Kellnerin arbeitet.

Seelsorge bei der Arbeit

Katjas Stammkundschaft ist über siebzig Jahre alt. Zu ihr kommen Ärzte, Lehrer, Musiker und Handwerker. Während des Corona-Lockdowns legte ihr ein Freier einen Korb mit Lebensmitteln und Hunderternoten vor die Tür. «Zu achtzig Prozent bin ich Seelsorgerin bei der Arbeit. Das Körperliche ist ein kleiner Teil», sagt sie. Nur einmal hat Katja versucht, auszusteigen. Sie fand Arbeit in einer Modebouti­que. «Die Chefin war eine Hexe», winkt Katja ab. Sie mag Sex und ihre Arbeit. «Ich lebe sehr gut damit.» Einmal im Monat besucht sie Lisa Janisch von der Aidshilfe Graubünden, Fachstelle für Prävention und Beratung, welche auch Sexarbeitende berät. Obwohl Katja schon Jahre in der Schweiz lebt, ist ihr Deutsch nicht fliessend. Janisch unterstützt sie beim Ausfüllen amtlicher Formulare. Als Opfer betrachtet sie Frauen wie Katja keineswegs. «Es sind eigenständig denkende Frauen, die ihr Leben selbst gestalten. Diese Frauen bieten ja nicht ihre Persönlichkeit, sondern eine Dienstleistung an, eine sexuelle Illusion.» Selbst Missbrauchsopfer, so Janisch, könnten Sexarbeit als autonome Überlebensstrategie wählen, was auch therapeutische Wirkung haben könne. «In dem sie aktiv Handelnde sind und eigene Regeln aufstellen.» Sexarbeit, so Janisch, sei keine Arbeit wie jede andere, aber sie verdiene den gleichen Schutz und Respekt wie andere.

Zerstörte Illusion

Dafür setzt sich auch die Churer Gemeinderätin und Frauenärztin Xe­nia Bischof ein. «Natürlich wünsche ich mir, dass es keine Prostitution gibt. Aber die Nachfrage ist gross. Interessanterweise stören die Sexarbeitenden unsere Gesellschaft mehr als die Freier.» Obwohl ein Teil unter Zwang arbeite, sei klar, dass Sexarbeit auch selbstbestimmt erfolgen könne. Sie dürfe nicht länger tabu sein, so Bischof. Auch Sexarbeitende bräuchten eine Lobby. Die Churer Pfarrerin Ivana Bendik bezweifelt, dass Prostitution selbstbestimmt erfolgt. «Was dem Körper widerfährt, geht nicht spurlos an der Seele vorbei.» Lange wohnte sie neben Prostituierten in der Basler Altstadt und weiss um die seelsorgerlichen Fähigkeiten vieler die­ser Frauen. Dass sie trotzdem Stigmatisierung in der Gesellschaft erleben, hat für die Pfarrerin existenzielle Gründe. «Die Pros­­titution zerstört den Traum in der Liebe unersetzbar zu sein», sagt sie, «das ist schmerzhaft und verletzend.» Für Bendik ist Sexualität auf «eigentümliche» Weise mit der Liebe verbunden. Trenne sie sich von ihr, werde sie schal «wie Nahrung, die nicht sättigt». Katja hat nie eine längerfristige Schweizer Aufenthaltsbewilligung beantragt, obwohl sie ihr zustünde. Es macht ihr nichts aus, die Arbeitsbewilligung jährlich zu erneuern. Denn bleiben will sie ja nicht. «Irgendwann kehre ich nach Budapest zurück.» Dort besitzt sie eine kleine Eigentumswohnung. Dann klingelt das Handy, das blaue. «Ruf später an», antwortet Katja schnell und zwinkert, «ein Stammkunde.» *Name geändert

Sexarbeit ist Arbeit

Prokore (Schweizer Netzwerk für Prostitution) lehnt das sogenannte Schweden-Modell ab, weil es den Sexarbeitenden die Selbstbestimmung abspricht, indem es Prostitution zwar nicht verbietet, aber die Freier kriminalisiert. Den von ProKoRe lan­cierten Appell Sexarbeit ist Arbeit unterstützen nicht alle Frauenrechts­organisationen in Graubünden. Die Frauen­zentrale lehnt ihn ab und ist für das Schwedenmodell. Während das Frauenhaus, wie auch die Aidshilfe, den Appell begrüssen.