Das Mittelmeer liegt am Ärmelkanal

Migration

Auch nach der Räumung des «Dschungels von Calais» halten sich Geflüchtete an der Küste Nordfrankreichs auf. Die Bernerin Margrit Moser war als Freiwillige vor Ort.

Seit 38 Jahren setzt sich Margrit Mo­ser für Geflüchtete ein. Angefangen hat es mit drei Tamilen, die sie aufgrund eines Inserates einlud, mit ih­rer Familie das Weihnachtsfest zu feiern. Daraus ergab sich, dass zwei der Tamilen bei der Familie zur Mie­te einzogen. «Bald schon war meine Küche eine Beratungsstelle für Tamilen», erzählt sie. Seither könne sie nicht mehr aufhören, sich für ge­flüchtete Menschen zu engagieren: «Je länger ich in diesem Bereich tätig bin, umso grösser wird die Motivation, mich für diese Menschen ein­zusetzen», erklärt sie.

Als der «Dschungel» geräumt wurde, verschwanden die Kameras, doch die Menschen blieben.

Die Bernerin weiss, wovon sie spricht: Sie war in verschiedenen Funktionen im Flüchtlingswesen tä­tig. So war es für sie ein logischer Schritt, dass sie im Juni zu einem Freiwilligeneinsatz mit Care4Calais nach Calais reiste. Diese NGO kümmert sich um die Verteilung von Hilfs­gütern für Geflüchtete, die dort gestrandet sind.

Der vergessene Dschungel

Die Situation am Ärmelkanal ist weit­gehend aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten. Noch im Jahr 2015 waren die Bilder des «Dschungels» überall zu sehen. Als dieser geräumt wurde, verschwanden die Kameras, doch die Menschen blieben. Menschen, die darauf hoffen, nach Grossbritannien zu gelangen.

«Der Ärmelkanal ist wie ein zweites Mittelmeer», sagt Margrit Moser. Zwischen Calais und Dünkirchen befänden sich in kleineren, informellen Lagern circa 1000 bis 1500 Geflüchtete – überwiegend junge Männer aus Afghanistan, Sudan, Eri­trea, Irak, Iran und Syrien. «Zumeist organisieren sich die Camps nach Ethnien», sagt Moser.

Die meisten Menschen hier haben schon eine lange Odyssee durch Europa hinter sich.
Margrit Moser, Flüchtlingshelferin

Kontakt zu den Menschen hatte die freiwillige Helferin trotzdem ge­nug, um die Lage einschätzen zu können. «Die meisten haben eine lan­ge Odyssee durch Europa hinter sich», sagt sie. Manche sind in anderen Ländern abgelehnt worden und flüch­ten vor der Abschiebung; alle wol­len sie über den Ärmelkanal. Meist versuchen sie es mit kleinen, oft seeuntauglichen Booten.

Restriktive Politik

Diese gefährliche Überfahrt wagen dennoch viele, weil Grossbritannien für Geflüchtete lange als verheissenes Land galt. Früher war es laut Moser in Grossbritannien verhältnismässig einfach, sich zu integrieren, das sei heute nicht mehr der Fall.

Alle 48 Stunden wird ein Camp auf brutale Weise geräumt.
Margrit Moser, Flüchtlingshelferin

Die englische Innenministerin verfolgt eine restriktive Migrations­politik. Zu diesem Kurs gehört auch eine Kooperation mit den fran­zö­si­schen Behörden, die diese verpflichtet, Geflüchtete an der Überfahrt zu hindern. Es fliessen Millionen von Euro. «Alle 48 Stunden wird ein Camp auf brutale Weise geräumt.» Doch die Menschen kommen wieder, und die NGOs versorgen sie mit dem Nötigsten.

Gut informierte Geflüchtete

Jeden Tag begeben sich die Freiwilligen an einen bestimmten Ort, um Essen, Kleidung oder sonstige Ausrüstung zu verteilen. Ausserdem bringen sie einen Generator mit, damit die Männer ihre Mobiltelefone laden können.

Manche Menschen hier strah­len Hoffnungslosigkeit buchstäblich aus.
Margrit Moser, Flüchtlingshelferin

«Das Mobiltelefon ist das Wichtigste: Es dient zur Kontaktaufnahme mit Verwandten und zur Routenplanung», sagt Margrit Moser. Deshalb seien die Leute in den meisten Fällen gut informiert. «Sie wissen um die Gefahren der Überfahrt und die britische Migrationspolitik. Dennoch nehmen sie die Risiken in Kauf – weil es andere bereits geschafft haben.»

Für globale Lösungen

Was sie in Calais erlebt habe, zeige einmal mehr, wie menschenunwürdig das europäische Migrationsregime sei, zieht Moser Bilanz. Nicht alle liessen sich unterkriegen, doch das Elend sei sichtbar: «Einigen ge­lingt es, kleine Momente der Un­be­schwertheit zu schaffen; andere strah­len Hoffnungslosigkeit buchstäblich aus.» Der Umgang mit der Migration sei schwierig, gefragt seien globale Lösungen. Doch eines ist für die engagierte Frau ebenso klar: «Es braucht sichere Routen für die Flucht, unbedingt.»