Jürg Wildermuth, welche Rituale gestalten Sie in Ihrer Kirchgemeinde Schlieren?
Jürg Wildermuth: Gottesdienste und Kasualien. Ich habe jedoch einen besonderen Blick darauf, weil ich mich schon lange mit Ritualen befasse.
Welchen besonderen Blick?
Eine Beerdigung etwa ist eigentlich ein Heilritual. Stirbt ein alter Maensch, war er zuvor oft lange krank. Oder der Tod kam plötzlich über die Familie und hinterlässt Wunden. Ich höre immer wieder, dass sich Angehörige seelisch verwundet fühlen. Eine Beerdigung kann da wirken.
Verstehen Sie sich dabei als Heiler?
Ich bin Seelsorger und Liturg. An der Heilung wirken viele mit: die Gemeinschaft und das Ritual.
Woher rührt Ihr Interesse an Ritualen?
Mein Jugendpfarrer entfaltete im kirchlichen Unterricht die Geschichte von Jona, der vom Walfisch verschluckt und wieder ausgespuckt wird. Als Heranwachsender hat mich die Erzählung elektrisiert. Heute verstehe ich sie im Sinn des Ethnologen Arnold van Gennep als eine Initiation: einem Übergang zwischen zwei Stadien im Leben, wie ich ihn als Pubertierender selbst durchlief. Heute sehe ich in Konfirmation, Taufe und Hochzeit das Potenzial zu solchen Initiationen.
Wie unterscheidet sich eine Konfirmation bei Ihnen von anderen Konfirmationen?
Ich habe Jona schon anlässlich von Konfirmationen inszenieren lassen, oder er war das Thema des Konfirmandenlagers.
Sie sind auch ein Kenner des Schamanismus.
Seit dem Theologiestudium beschäftige ich mich damit und lese die Bibel mit ethnologisch sensibilisierten Augen.
Was bringt das?
Ich kann meine rituelle Handlungskompetenz erweitern. Ein Beispiel: Ich habe wiederholt über die Geschichte von Zacharias gepredigt, dem der Engel die Geburt von Johannes dem Täufer ankündigt. Doch erst spät nahm ich wahr, dass Zacharias im Tempel ein Räucheropfer darbringt. Zuvor überlas ich dies, da meine Wahrnehmung in meiner Tradition befangen war. Wir Reformierten räuchern ja nicht. «Wenn Zacharias das macht, darf ich das auch», sagte ich mir.
Räuchern Sie als Pfarrer nun regelmässig?
Selten. Eine Familie, deren Ehefrau und Mutter im eigenen Haus Suizid begangen hatte, bat mich, ich möge das Haus segnen. Ich bot ihr an, es mit Weihrauch auszuräuchern – was für sie sehr befreiend war. Einmal räucherten wir anlässlich einer Konfirmation.
An einem Ritualkongress sprechen Sie über «die Passion Christi als Grundmuster christlicher Ritualarbeit».
Die Geschichte vom Leiden, Sterben und der Auferstehung Jesu erzählt von einer Wandlung: Jesus stirbt und der Sohn Gottes aufersteht in Kraft. Sie kann hilfreich sein für Menschen an einem Wendepunkt: Niklaus von Flüe etwa entdeckte in einer tiefen Krise durch die Meditation von Jesu Leidensweg neuen Lebenssinn.
Interview: Sabine Schüpbach
Ritualkongress. Spannungsfeld Schamanismus, Kirche und Psychiatrie. 13. /14. Februar, Unterwasser (SG). www.ritualkongress.ch