Recherche 22. Dezember 2020, von Christa Amstutz Gafner

«Die Furcht ist eine grosse Macht»

Advent

Bernard Suwa ist im Südsudan mit viel Leid konfrontiert. Darum findet er die Forderung, sich nicht zu fürchten, eine Zumutung. Und trotzdem warnt er vor der Macht der Angst.

Im Südsudan gibt es zahllose Gründe, sich zu fürchten. Seit Jahrzehnten. Und doch verlangt die Bibel von uns, dies nicht zu tun. Weiss Gott denn nicht, wie vielen Bedrohungen wir in unserem Land täglich ausgesetzt sind?

Über 110 Mal werden wir in der Heiligen Schrift aufgefordert, keine Angst zu haben. Zum Beispiel im ersten Buch Josua: «Habe ich dich nicht geheissen, mutig und stark zu sein?» Was für eine Zumutung!

In der Bibel wimmelt es von solchen Zumutungen. Abraham hat wohl kaum ohne grosse Sorge und Angst die Heimat für eine ungewisse Zukunft verlassen. Einem mächtigen Herrscher die Stirn zu bieten und dann in die Wüste hinauszuwandern wie Moses, ist alles andere als gemütlich. Und sicher haben sich Maria und Joseph ziemlich gefürchtet, als sie erfuhren, Eltern des Messias zu werden.

Wenn mit «Fürchte dich nicht» einfach gemeint wäre, die Angst vor Verlust von Sicherheit und Komfort zu überwinden, könnte ich dazu als Pfarrer im Südsudan nicht predigen. Hier kann man immer und überall und ohne Vorwarnung von Schicksalsschlägen heimgesucht werden. Kriegerische Gewalt, ethnische Verfolgung, grosse Armut, Hungerkrisen, Überschwemmungen und die damit verbundenen Krankheiten gehören zum Alltag. Und jetzt ist die weltweite Corona-Pandemie auch noch hinzugekommen.

Doch wir dürfen nicht nur auf die vielen Gründe, sich zu fürchten, blicken. Wir müssen uns auch bewusst machen, was die Angst mit uns anstellt. Sie ist eine natürliche Reaktion auf Bedrohungen in der Welt. Sie kann uns jedoch oft rascher und gründlicher zerstören als das, wovor wir uns fürchten. Furcht ist ­eine grosse Macht, die meist wenig Gutes in uns hervorbringt.

Wenn mit «Fürchte dich nicht» gemeint wäre, einfach die Angst zu überwinden, könnte ich dazu als Pfarrer im Südsudan nicht predigen.

Das höchste christliche Gebot ist die Nächstenliebe. Wie sollen wir den Nachbarn lieben oder einen Schritt auf die «Gegner» zumachen, wenn wir uns vor ihnen fürchten?

«Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit» (2 Tim 1,7). Kraft, Liebe und Besonnenheit vertragen sich nicht mit Furcht. Es gilt, wachsam, informiert, besonnen zu sein gegenüber realen Gefahren. Und sich doch vom Johannesbrief leiten zu lassen: «Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus» (1. Joh 4,18).

Die Menschen als ein Licht

Ich habe einige Menschen getroffen, die diese Furcht austreibende Liebe wahrhaftig vorleben. In ihnen begegnet uns die Weihnachtsbotschaft: das Licht, das die Dunkelheit erhellt, Hoffnung und Mut schenkt. «Das Volk, das in der Finsternis geht, hat ein grosses Licht gesehen» (Jes 1,9). Dieses Licht möge an Weihnachten für uns alle scheinen und uns durch das nächste Jahr führen.