Recherche 22. Dezember 2020, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Die Gewissheit, in etwas Grösserem aufgehoben zu sein»

Advent

Sie hört zu, freut sich mit den Menschen, die genesen, hält jenen die Hand, die im Sterben liegen: Spitalpfarrerin Barbara Oberholzer ist täglich mit Angst und Tod konfrontiert.

An meinem Arbeitsort, dem Universitätsspital, sind Furcht und Angst sehr präsent. Schilder wie «Onkologie», «Radiotherapie», «Intensivstation» – und schon läuft einem der kalte Schweiss über den Rücken. Wer will schon krank sein, wer will sterben? Daran denken wir alle nicht gern. Und erleben tun wir es erst recht nicht gern.

Der göttliche Funken in uns

Ängste tauchen auf: um die Gesundheit, das eigene Leben, die Selbstständigkeit oder die wirtschaftliche Existenz. In dieser Welt ein «Fürchte dich nicht» entgegenzusetzen, ist nicht einfach. Auch für mich nicht.

Ich hätte auch Angst. Passt es da überhaupt, in solche Sorgen, solches Leid hinein zu sagen: «Fürchte dich nicht»? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sehr sich die Hirten auf dem Feld gefürchtet haben müssen. Das überirdische Licht muss grösste Angst in ihnen ausgelöst haben. Eine ganz andere Dimension zeigte sich plötzlich, eine himmlische Welt, das Absolute. Was ist ein Menschenleben da noch wert, seine Nöte und Freuden? Werden wir gegenüber der göttlichen Kraft nicht verschwindend klein, austauschbar, unbedeutend, eigentlich egal? Wer sind wir da überhaupt noch? Im Alten Testament hiess es: Wer Gott sieht, kann das nicht überleben.

Es fällt mir immer leichter, auch Sterbenden zu sagen, sie brauchten sich nicht zu fürchten.

Die Hirten jedoch überleben es. Und nicht nur das. Sie erhalten Trost und Zuspruch. «Fürchtet euch nicht, denn ich verkündige euch ­eine grosse Freude.» Genau dieser Zuspruch begleitet mich auch bei meiner Arbeit. Gott ist nicht etwas, das uns auslöscht. Auch der Tod nicht, der im Leben vielleicht dem Absoluten am nächsten kommt. Wir sind in unserem Leid nicht ganz verlassen.

Wir überleben das Absolute, weil ein göttlicher Funke in uns ist, verborgen in uns schlummert wie das Kind in der Krippe. Auch angesichts von Krankheit und Sterben bleiben wir uns selber, tragen eine stille Kraft in uns.

Wenn ein Engel erscheint

Gott ist uns nahe. Unser Leben ist aufgehoben in etwas Grösserem und Liebevollem, unendlich Zugewandtem. Je älter ich werde, desto mehr empfinde ich das. Es fällt mir immer leichter, auch Sterbenden zu sagen, sie brauchten sich nicht zu fürchten. Menschen zuzusprechen, dass sie ihren Weg gehen, ihr Leben auch mit Krankheit bewältigen können. Angehörige zu bestärken, zu tun, was sie tun können, und ihren liebsten Menschen gleichzeitig in Gottes Hand zu wissen. Das «Fürchte dich nicht» bringt eine unglaubliche Entlastung.

Nachher gingen die Hirten zum Stall. Sie sahen das Kind in der Krippe und freuten sich. Nein, wir müssen uns nicht fürchten. Wir machen nichts falsch. Wir tun, was wir können, was uns aufgetragen ist, was uns Freude macht, in Gesundheit und Krankheit. Am Lebensende erscheint vielleicht auch uns ein Engel, der uns sagt: «Fürchte dich nicht».