Recherche 27. Dezember 2019, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Ein Blind-Date kann Wunder wirken»

Gerontologie

Die Gerontologin Heike Bischoff-Ferrari erklärt im Interview, wie man seine Gesundheit und Lebenserwartung positiv beeinflussen kann.

Frau Bischoff-Ferrari, wollen sie als Altersmedizinerin das Alter bekämpfen? 

Heike Bischoff-Ferrari: Das Alter ist keine Krankheit, die es zu besiegen gilt. Es gehört zum Leben, zu unserer Biologie. Und diese versagt irgendwann. Aus rein medizinischer Sicht ist es spannend, dass es Menschen gibt, die lange sehr gesund und aktiv sind und andere wiederum, die früh Zeichen der Gebrechlichkeit entwickeln. Warum ist das so? Was ist das Risikoprofil, wie kann man es beeinflussen und Menschen helfen, möglichst lange aktiv zu sein? Das herauszufinden ist Kern der Altersmedizin. Wir wollen dem Alter nicht den Kampf ansagen, sondern es verstehen.

Verstehen Sie es?

Klar ist, dass die Genetik eine wichtige Rolle spielt. Beeinflusst wird sie aber über epigenetische Aspekte, also durch die Umwelt. Genetik ist gewissermassen der Lichtschalter, die Epigenetik derjenige, der den Schalter ein- und ausschaltet. Die Lebensumstände tragen wesentlich dazu bei, genetische Risiken ausbrechen zu lassen oder zu verhindern. Das ist eine sehr erfreuliche Erkenntnis, weil sie dem Menschen Verantwortung überträgt. Man ist nicht einfach seinen Genen ausgeliefert. Mit einer gesunden Ernährung und einem aktiven Lebensstil können wir Einfluss nehmen und die gesundheitlichen Risiken senken. Das hört sich einfach an, ist aber schwierig, da man täglich daran arbeiten muss. 

Gesund zu bleiben ist ja schon heute das Ziel der Medizin. Gibt es neue Erkenntnisse, wie man dieses erreichen kann? 

Prävention heisst das Zauberwort. Wer lange gesund bleiben will, sollte auf eine mediterrane Lebensweise setzen. Ihre hauptsächliche Fettquelle ist Olivenöl, wenig rotes Fleisch, Hülsenfrüchte wie Linsen oder Bohnen, viel Gemüse und Früchte. Es gehört aber noch mehr dazu. Im Wesentlichen sind es drei Pfeiler, welche die Qualität des Älterwerdens beeinflussen: Ernährung, Bewegung (mindestens 6000 Schritte im Tag!), sowie die Einstellung zum Leben. Letztere darf nicht vernachlässig werden, wie viele Studien beweisen. Hierzu gehören Werte wie die Zufriedenheit, mit Menschen in Beziehungen sein, flexibel zu bleiben und an Veränderungen teilzunehmen. Aber auch die Spiritualität hat einen wichtigen Einfluss auf die Lebensqualität im Alter. Der Glaube an etwas Grösseres verleiht dem Alter einen Sinn und fördert die Resilienz, also die Fähigkeit, mit Schicksalsschlägen umgehen zu können.

Dann kann auch die Kirche als spiritueller Begegnungsort auch einen Beitrag zur Volksgesundheit leisten? 

Unbestritten. Das soziale Netzwerk, das die Kirche anbietet, ist enorm wertvoll. In der Predigt werden aktuelle Themen reflektiert, eine Auseinandersetzung findet statt. Danach sitzt man vielleicht noch zusammen, unterhält sich, isst gemeinsam. Soziale Kontakte sind das A und O. In der Klinik für Altersmedizin am Universitätsspital sind Menschen, die akut erkrankt sind. Unser ganzes Team ist bemüht, sie rasch gesund zu machen. Doch es gibt viele Patienten, die nach der Genesung am liebsten hier bleiben würden statt nach Hause zu gehen. An der Chefvisite überlegen wir jeweils, wen wir am Mittagstisch neben wen setzen wollen. Denn es hat sich gezeigt: Wer zu einem Blind-Date bereit ist, hat gute Chancen, schnell auf die Beine zu kommen (lacht). Dies kann Wunder wirken. Denn auch im Alter soll man sich auf neue Menschen einlassen. Ausserdem ist es wichtig, dass man eine aktive Rolle behält. In einer breiten klinischen Studie konnte gezeigt werden:  Wer sich im Alter um einen Menschen, ein Tier oder auch um eine Pflanze kümmert, genest deutlich schneller. 

Sie leiten die europaweit grösste Studie in der Altersforschung (siehe Box). Was sind die Ziele der Do-Health-Studie?

Mit der Do-Health-Studie wollen wir beweisen, dass die Einnahme von Vitamin D und/oder Omega-3-Fettsäure sowie ein einfaches Trainingsprogramm für zu Hause einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der gesunden Lebenserwartung leisten kann. Ziel ist es, das Knochenbruchrisiko zu senken, denn nach einem Hüftbruch verlieren viele ältere Menschen ihre Autonomie - für 30 Prozent der über 74-Jährigen endet dieser sogar tödlich. Wir wollen zeigen, dass mit den einfachen Präventionsmassnahmen die Muskelfunktionen erhalten, der Bluthochdruck positiv beeinflusst und Demenz vorgebeugt werden kann. Das physiologische Altern in Bezug auf verschiedene Organfunktionen lässt sich so hinauszögern. In Pilotstudien konnten wir bereits belegen, dass Vitamin D etwa jeden dritten Sturz und jeden dritten Hüftbruch vermeiden kann. 

Sie wollen die gesunde Lebensspanne vergrössern, andere den Tod besiegen. Was halten Sie als Gerontologin denn von der Kryonik, einer Technik, die Tote einfriert, um sie später wiederzubeleben?

Das ist nicht meine Welt. An meinen Vorträgen sage ich immer: Das Alter ist keine Zahl. Ich höre so oft von Patienten, dass sie sich viel jünger fühlen als sie tatsächlich sind. Gewisse Ressourcen nehmen zwar ab, andere aber zu, man kann es Erfahrung oder auch Weisheit nennen. Darum liebe ich die Altersmedizin so, sie bringt mich mit unglaublichen Menschen und unglaublichen Geschichten zusammen. Als Gerontologin möchte ich einen Beitrag leisten, dass möglichst viele Menschen diesen Abschnitt des Lebens mit hoher Lebensqualität geniessen können und den Leuten ein Mittel an die Hand geben, wie man daran arbeiten kann.

Ist es überhaupt wünschenswert, 100 Jahre alt zu werden?

Ich denke nicht. Schauen sie sich die demografische Entwicklung an: Die Gruppe der Jungen und Mittelalterlichen stagniert, nimmt in der Schweiz sogar ab, wohingegen die Gruppe der Alten immer grösser wird. Es besteht ein riesiger Forschungsbedarf. Entscheidend ist nicht, das Leben zu verlängern, sondern die gesunde Lebenserwartung zu erhöhen. In der Schweiz liegt diese aktuell bei 74 Jahren, in den USA bei 69 Jahren. Es gibt Hochrechnungen die zeigen: Wenn die gesunde Lebenserwartung um sieben Jahre verlängert werden kann, liessen sich die Kosten der altersbezogenen Krankheiten wie Krebs oder Diabetes um mehr als die Hälfte reduzieren. Ziel auch aus gesundheitsökonomischer Sicht muss es sein, möglichst alle chronischen Erkrankungen am Lebensende zu komprimieren.

Dann sehen Sie das Alter nicht als Defizit, sondern als etwas Positives?

Das Alter ist eine unglaublich spannende Zeit. Man hat Zeit, sich mal einfach die Welt anzuschauen, Bücher zu lesen, Menschen zu treffen. Doch neben Zeit braucht dies auch eine gewisse Gesundheit und Mobilität. Frühzeitige Einschränkungen limitieren die Lebensqualität. Eine Ausweitung der gesunden und aktiven Lebensspanne ist wünschenswert. Es ist nie zu spät! 

Mit Molke länger gesund bleiben

Im Jahr 2012 startete am Zentrum für Alter und Mobilität in Zürich die europaweit grösste Alterstudie Do-Health unter der Leitung von Heike Bischoff-Ferrari. Die Studie soll beweisen, dass die Lebenserwartung von Menschen mit Vitamin-D-Mangel niedriger ist als jene von Menschen mit ausreichender Versorgung. Über 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über 75 Jahre aus insgesamt fünf Ländern haben daran teilgenommen. Neben der Einnahme von Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren absolvierten sie dreimal pro Woche ein leicht durchführbares Trainingsprogramm. In wenigen Wochen werden die Ergebnisse aus der Studie publiziert. «Sie sind vielversprechend», verrät Bischoff-Ferrari. In einer neuen Studie will die Altersforscherin den Einfluss von Molke auf die Lebenserwartung testen. Weitere Informationen: www.alterundmobilitaet.usz.ch