«Ein Stück ziviler Ungehorsam tut gut»

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Kirche und Politik sind für Verena Mühlethaler kaum zu trennen. Werde die Menschenwürde verletzt, müsse die Kirche handeln. Die Reformierten sind der Pfarrerin oft zu leise.

Ihre Kirche hat die Occupy-Bewegung beherbergt und Fahnen der Konzernverantwortungsinitiative gehisst. Müsste der Offene St. Jakob nicht linker St. Jakob heissen?

Verena Mühlethaler: Nein, wir meinen das ernst mit der Offenheit. Vor Jahren entfernte mein Vorgänger die Kirchenbänke. Den leeren Raum füllen wir mit Angeboten für eine moderne Stadtbevölkerung: ob Yoga, 5-Rhythmen-Tanz oder Ausstellungen. Auch religiös sind wir offen. Zwar sind unsere Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition, aber wir feiern auch interreligiöse Gottesdienste.

Und die politische Offenheit?

Wir melden uns immer wieder politisch zu Wort. Oft deckt sich unsere Stellungnahme mit linken Positionen. Aber die Kirche als links zu bezeichnen, ginge mir zu weit.

Würde sich ein konservativer Kirchgänger bei Ihnen wohlfühlen?

Ich glaube, auch er würde etwas finden, was ihn anspricht. Wir sind nicht ausgrenzend, treten allen Menschen respekt- und liebevoll entgegen. Es kommen auch Menschen, die politisch anders gestrickt sind als ich. Und wir hängen nicht nur Fahnen auf, wir diskutieren über diese Themen, hören andere Positionen an. Unsere Gottesdienste sind nicht nur politisch, sondern auch seelsorgerlich und spirituell.

Politik von der Kanzel zu predigen, ist für Sie also kein Tabu?

Pfarrpersonen haben die Aufgabe, einen Bibeltext auszulegen. Aus einer Heilungsgeschichte oder einem Gleichnis immer eine politische Botschaft herauszufiltern, das wäre ein Murks. Aber viele Texte enthalten eine politische Dimension. Klar sind die Zeiten heute andere. Doch ich finde es wichtig zu überlegen, wie Jesus zur Konzernverantwortung stünde oder zur Nothilfestruktur für Flüchtlinge.

Von der Zürcher Landeskirche höre ich sehr wenig. Schaue ich jenseits der Grenze, muss ich sagen: In Deutschland ist die Kirche politisch präsenter.
Verena Mühlethaler, Pfarrerin

Lässt sich die Bibel überhaupt unpolitisch lesen?

Nein. In der Bibel sind Religion, Wirtschaft und Politik eng verwoben, das lässt sich oft nicht auseinanderdröseln. Jesus wurde als politischer Unruhestifter gekreuzigt. Sein ganzes Leben ging es darum, Veränderungen anzustossen für eine gerechtere Gesellschaft.

Die Bibel als politisches Manifest?

Das nun auch nicht. Ein Manifest ist eindeutig, die Bibel ist hingegen ein vielstimmiges Buch mit teils widersprüchlichen Aussagen. Man kann Aussagen aus dem Kontext nehmen und mit ihnen – wie Trump – eine menschenverachtende Politik legitimieren. Man muss die Bibel interpretieren, den roten Faden finden. Für mich geht es um das friedliche Zusammenleben und Versöhnung. Und ganz zentral ist dabei die Menschenwürde. Wird sie verletzt, sind wir der Ansicht, dass wir politisch aktiv werden müssen. 

Gibt es Themen, bei denen sich die Kirche zurückhalten sollte?

Natürlich haben Kirchenmitglieder in Bereichen wie der Migrationspolitik besondere Kompetenzen, denn in der Flüchtlingshilfe gibt es eine lange kirchliche Tradition. Nimmt man jedoch die Bibel als Grundlage, kann sich die Kirche grundsätzlich zu allen Themen äussern. Das setzt natürlich voraus, dass man sich mit ihnen intensiv befasst.

Wie sehen Sie die politischen Stellungnahmen der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS)?

Die EKS macht gute Hintergrundpapiere, legt Argumente für und wider dar und gibt eine Empfehlung. Ihre Stimme könnte schon lauter sein. Von der Zürcher Landeskirche höre ich sehr wenig. Schaue ich jenseits der Grenze, muss ich sagen: In Deutschland ist die Kirche politisch präsenter.

Inwiefern?

Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, findet oft sehr klare, dezidierte Worte. Das finde ich mutig und stark. Bei uns gibt es die Tendenz, es allen recht machen zu wollen. Das finde ich falsch. Die Bibel ist unsere alleinige Richtschnur, nicht die Frage, ob wir zahlungskräftige Mitglieder verlieren könnten. Denken wir so, können die Kirchen gleich schliessen. Zudem gibt es Leute, die mir gesagt haben, sie seien wegen des Offenen St. Jakob noch nicht aus der Kirche ausgetreten. Ein Stück ziviler Ungehorsam tut einer christlichen Gemeinde gut.

Verena Mühlethaler, 48

Geboren in Wattwil SG, studierte Verena Mühlethaler in Bern und Amsterdam Theologie. Drei Jahre arbeitete sie in Rotterdam in einer Kirchgemeinde, in Berlin war sie in der Spitalseelsorge und für eine Bürgerplattform tätig. 
Seit 2010 ist sie Pfarrerin in der Offenen Kirche St. Jakob und setzt sich 
als Präsidentin des Solinetzes für geflüchtete Menschen ein.