«Es braucht verschiedene Töne»

Interviewserie

Solange sich die Kirche aufgrund ihrer seelsorgerlichen Arbeit in die politische Debatte einbringe, bleibe sie glaubwürdig, sagt der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller.

Wenn Sie die Interviewserie von «reformiert.» lesen: Erklingt darin die Vielstimmigkeit der reformierten Kirche, oder ertönt vielmehr eine reformierte Kakofonie?

Michel Müller: Ich habe alle Beiträge mit Interesse gelesen. Und bei allen Pfarrerinnen und Pfarrern, die zu Wort kamen, fand ich mindestens eine These, die mir einleuchtete.

Trotzdem kann es der Kirchenrat nicht allen recht machen. Zu widersprüchlich sind die Meinungen.

Stimmt. Die reformierte Vielstimmigkeit im guten Sinn erhalten wir dann, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer aus ihrer seelsorgerlichen Arbeit und theologischen Überzeugung heraus zum Schluss kommen, dass die Kirche sozialer, liberaler oder neutral sein soll. Es braucht diese unterschiedlichen Töne, Musik klingt ja auch langweilig, wenn stets nur eine einzige Stimme erklingt. Verlangt aber jede und jeder, dass der Kirchenrat gefälligst genau so handeln soll, wie sie oder er es für richtig hält, wird es schrill. Dann haben wir tatsächlich eine Kakofonie.

Wenn eine Frage die Schweizer Kirchengemeinschaft bewegt, soll sich der EKS-Rat äussern.

Zu welchen politischen Fragen soll sich die Kirche überhaupt äussern?

Ich würde das nicht vom Thema abhängig machen. Denn wir stimmen in der Schweiz über Kuhhörner und Haftungsregeln für weltweit tätige Unternehmen ab. Entscheidend ist, ob die Kirche mit ihrer Kompetenz die Debatte wirklich bereichert. 

Zu den Hornkühen hätte die Kirche auch etwas zu sagen?

Der verantwortungsvolle Umgang mit Tieren ist ein wichtiges christliches Anliegen. Und wir haben eine Bauernseelsorge und ökologische Arbeitsgruppen. Daher will ich das nicht prinzipiell ausschliessen. Der Rat der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) spricht für eine Kirchengemeinschaft. Wenn eine Frage diese Gemeinschaft bewegt, soll er sich äussern. Das war bei der Konzernverantwortungsinitiative, die von den Hilfswerken angestossen worden ist, der Fall. Auch in der Flüchtlingsfrage sind viele Kirchgemeinden stark engagiert.

Zu den Trinkwasser-Initiativen vom 13. Juni publizierte die EKS zehn Fragen und zehn Antworten.

Wasser ist ein zentrales biblisches Motiv von Sintflut bis Taufe. Und als Wasserschloss Europas steht die Schweiz in der Verantwortung. Dass die EKS die Initiativen und das CO₂-Gesetz in einen grösseren Kontext stellt, halte ich für theologisch und kirchlich einleuchtend. Dabei hat sie Produzenten wie Konsumenten im Blick. Das gewählte Format hilft mündigen Bürgerinnen und Bürgern bei der Entscheidungsfindung aus christlicher Sicht. 

Und wenn es um die Ehe für alle geht, ist die EKS erneut gefragt?

Da ist die Kirche mehrfach gefordert. Viele Mitglieder im Referendumskomitee argumentieren mit der Bibel. Als Reformierte haben wir die theologische Pflicht aufzuzeigen, dass wir die Bibel auch anders lesen können und Homosexuelle nicht diskriminieren. Die Liebe ist die Hauptbotschaft des christlichen Glaubens. Da geht es somit um unsere Glaubwürdigkeit. Zudem sind Partnerschaft, Ehe und Familie zentrale Fragen in der Seelsorge.

Oft ist es zielführender, das vertrauliche Gespräch mit politischen Entscheidungsträgern zu suchen.

Apropos Seelsorge: Kritisiert wird, die Kirche kümmere sich zu wenig darum und mache zu viel Politik.

Richtig, wir müssen eine seelsorgerliche Kirche sein. Das bedeutet aber nicht, unpolitisch zu werden. Wenn unsere Seelsorgerinnen und Seelsorger in den Gemeinden oder Asylzentren feststellen, dass es am System Korrekturen braucht, soll die Kirche aktiv werden. Das muss nicht heissen, dass sie gleich lautstark Forderungen aufstellt. Oft ist es zielführender, das vertrauliche Gespräch mit politischen Entscheidungsträgern zu suchen. Als öffentlich-rechtlich anerkannte Landeskirche haben wir dieses Privileg.

Seelsorge und Politik werden aber oft als Gegensätze beschrieben.

Das ist falsch. Politisches Engagement ist gerechtfertigt, wenn es auf dem Engagement der Kirche und Hilfswerke in Seelsorge, Diakonie und Entwicklungszusammenarbeit basiert. Dann sind Stellungnahmen und Kampagnen glaubwürdig. Dieser Einsatz wird selbst von vielen Mitgliedern akzeptiert, die mit der konkreten Parole nicht einverstanden sind. Entscheidend ist, dass wir seelsorgerlich, nicht selbstgerecht argumentieren.

Seit 2011 ist Michel Müller Kirchenratspräsident der reformierten Kirche des Kantons Zürich. Zuvor war er Pfarrer in Thalwil und Mitglied der Synode, des Kirchenparlaments der Landeskirche.

Das Interview mit Michel Müller schliesst die «reformiert.»-Serie ab, in der Pfarrerinnen und Pfarrer Fragen zum politischen Engagement der Kirche beantwortet haben.