«Wer handelt, macht sich schmutzig»

Interviewserie

Die Kirche flüchte sich aus Angst vor ihrem Bedeutungsverlust in die politische Korrektheit, sagt Pfarrer Michael Baumann. Sie brauche den Mut, das Jenseits ins Spiel zu bringen.

Sind Sie ein politischer Mensch? 

Michael Baumann: Ich denke schon. 

Und ein politischer Pfarrer?

Das glaube ich nicht.

Worin liegt der Unterschied?

Schon Augustinus hat erkannt, dass Gottesreich und Welt nie deckungsgleich sind. Manchmal berühren sich die beiden Kreise. Aber es bleiben zwei unterschiedliche Bereiche. Die Versuche, durch linke oder rechte Ideologien das Paradies auf Erden zu installieren, enden erfahrungsgemäss in der Katastrophe.

Die reformierte Kirche landet überraschungsfrei bei einer linkslastigen Mainstream-Position.

Im Gegensatz zum Kirchenvater Augustinus hat Reformator Huld­rych Zwingli die weltliche auf die göttliche Gerechtigkeit bezogen.

Wirklich Ernst gemacht haben damit nur die Täufer, indem sie das Evangelium in der Welt umsetzen wollten. Doch wer politisch handelt, macht sich die Hände schmutzig. Die Reformatoren wussten das.

Aus christlicher Sicht ist es nicht egal, wie blutig die Hände werden.

Dass dreckig wird, wer politisch handelt, ist keine Entschuldigung. Es gilt, den Schaden an Mensch und Umwelt möglichst gering zu halten. Aber die Bibel ist kein Rezeptbuch für die Umgestaltung der Gesellschaft. Sie erzählt von existenziellen Erfahrungen der Menschen und stellt sie in einen Bezug zu Gott.

Wie nehmen Sie die Stellungnahmen der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) wahr?

Ich lese selten eine eigenständige Argumentation. Oft habe ich den Eindruck, dass die EKS die Debatte verfolgt und gegen Ende die Argumente zusammenträgt. Sie landet dabei überraschungsfrei bei einer linkslastigen Mainstream-Position.

Michael Baumann (50)

Seit zehn Jahren ist Michael Baumann als Pfarrer in Wiesendangen ­tätig. Er ist promovierter Theologe und Reformationshistoriker. Im Bullinger-Jahr 2004 war er wissenschaftlicher Berater der Ausstellung im Grossmünster, die das Jubiläum rund um den 500. Geburtstag von Reformator Heinrich Bullinger (1504–1575) eröffnete.

In der Migrationspolitik vertritt die Kirche selten den Mainstream, beim Burka-Verbot stand die EKS zuletzt auf der Verliererseite.

Die Stimme der Kirche unterscheidet sich kaum von Parteien und Interessensverbänden. Ich kann linke Positionen ja verstehen. Als Theologiestudent hielt ich den Sozialismus für die Gesellschaftsform, die dem Evangelium am ehesten entspricht.Ich glaubte, jene Befreiungstheologen, die mit der Maschinenpistole gegen Grossgrundbesitzer kämpfen, brächten das Reich Gottes. In der Mittelschule verteilte ich sowjetische Propagandaschriften.

Und heute?

Ich bezeichne mich als wertkonservativ. Manchmal ist mir die SVP zu links oder zu wenig liberal und leider oft auch zu antikirchlich.

Die Kirche hat furchtbar Angst davor, sie könnte irgendjemandem auf die Füsse treten.

Lässt sich auch diese Position mit Bibelstellen untermauern?

Das ist der falsche Ansatz. Politik ist die Kunst, das Gemeinwesen möglichst gerecht zu organisieren.

Will das die Bibel nicht auch? 

Doch. Insofern ist jede politische Haltung, die ein gutes Zusammenleben fördert, christlich. Aber um mich politisch zu bilden, brauche ich nicht nur die Bibel. Politik ist nicht Kerngeschäft der Kirche. Ihr Kerngeschäft ist, von Gott zu reden.

Zur Politik soll sie schweigen?

Es gibt viele ethische Fragen, zu denen die Kirche etwas zu sagen hat. Zur Sterbehilfe, zum Islam oder zur weltweiten Verfolgung der Christen. Doch die Kirche hat furchtbar Angst davor, sie könnte irgendjemandem auf die Füsse treten.

Die zentrale Botschaft der Bibel ist, dass es ohne Gott nicht geht.

Die Kirche ist nicht politisch, sondern nur noch politisch korrekt?

Genau. Um den Bedeutungsverlust zu kompensieren, flüchtet sie sich in politisch korrekte Positionen. 

Was hilft es, wenn die Kirche den Islam kritisiert? Die Religionen haben sich lange genug bekriegt.

Ich will keinen Kulturkampf. Aber die Kirche braucht den Mut, das christliche Abendland mit Inhalten zu füllen, indem sie die Islamkritik nicht scheut und der Säkularisierung entgegentritt. Damit macht sie sich nicht nur Freunde. Und sie sollte das Jenseits vermehrt ins Spiel bringen. Das traut sie sich kaum noch, aus Angst, ausgelacht zu werden. Die zentrale Botschaft der Bibel ist, dass es ohne Gott nicht geht. Gibt die Kirche diese Position auf, gesteht sie ein, entbehrlich zu sein.

Die Kirche müsste sagen: Ohne Gott seid ihr verloren?

Ja. Das wäre doch eine politisch brisante Aussage.

Die politische Kirche

In der Interviewserie «Die politische Kirche» kommen Pfarrerinnen und Pfarrer der reformierten Landeskirche im Kanton Zürich zu Wort. Sie sagen, welches politische Engagement sie von der Kirche erwarten und wie sie ihre eigene Positionierung theologisch begründen. Sie erklären, weshalb sie sich für eine soziale, liberale oder neutrale Kirche einsetzen, und wo für sie Raum für politische Debatten auf Basis der Botschaft des Evangeliums ist.