«Ich käme mir wie eine Heuchlerin vor»

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Fehle den Pfarrerinnen und Pfarrern der Mut, sich auch einmal politisch zu exponieren, könnten sie auf der Kanzel gleich Dudelsack spielen, sagt die Pfarrerin Catherine McMillan.

Die Konzernverantwortungsinitiative (KVI) riss Gräben auf. Hat sich der Einsatz trotzdem gelohnt?

Catherine McMillan: Die Kirche hat ge­zeigt, was Christentum bedeutet: sich für Menschen einsetzen, die unter die Räder kommen. Die Gräben waren schon vorher da. Manchmal muss man Spannungen sichtbar machen, um voranzukommen.

Selbst wenn Austritte der Preis für diese Auseinandersetzung sind?

Mich macht jeder Kirchenaustritt traurig. Aber ich käme mir wie eine Heuchlerin vor, würde ich meine Chancen nicht nutzen, mich an die Seite der Benachteiligten zu stellen.

Laut Vox-Analyse sagte die Mehrheit der Reformierten Nein. Politisiert die Kirche an der Basis vorbei?

Viele Mitglieder haben den Bezug zu reformierten Werten verloren. Sie besuchen keine Gottesdienste, hatten kaum Religionsunterricht. Wer zum Gottesdienst kommt, will einen Denkanstoss, der mit unserer heutigen Zeit zu tun hat. Ich erhalte immer gute Rückmeldungen, wenn ich zu aktuellen Fragen predige.

Mich irritiert, wie sich Kirchenleute von der Kampagne der Gegner verunsichern liessen und nun sagen, das Werben für die KVI sei ein Fehler gewesen. Die Botschaft der Kirche ist nicht käuflich.

Dennoch müsste eine demokratisch verfasste Kirche ihre Positionen doch demokratisch legitimieren.

Ich wusste die Kirchenpflege hinter mir. Dass die Kirche ihren Hilfswerken den Rücken stärkt, ist doch das Natürlichste der Welt. Jahrelang haben wir Gottesdienste zur Fastenkampagne gefeiert. Und als wir endlich Aussicht auf Erfolg hatten, hätten wir schweigen sollen? Mich irritiert, wie sich Kirchenleute von der Kampagne der Gegner verunsichern liessen und nun sagen, das Werben für die KVI sei ein Fehler gewesen. Die Botschaft der Kirche ist nicht käuflich. Sie hat einen Herrn: Jesus Christus. Wir müssen darum ringen, welcher Weg der Nachfolge am ehesten entspricht.

Und die KVI war dieser Weg?

Ich sprach nie jemandem das Christsein ab. Ich habe nur dargelegt, wie ich mein eigenes Christsein verstehe. An dieser Position konnte man sich natürlich reiben. Ich führte einen offenen Dialog, der auch für mich eine Bereicherung war.

Besteht die Gefahr, dass der Kirche der konservative Flügel wegbricht?

Ja. Und das wäre schlimm, weil viele Konservative an der Institution Kirche hängen. Wir dürfen ihre Ansichten nicht reflexartig beiseitewischen. Geht es zum Beispiel um Ster­behilfe, bin ich eher konservativ. Natürlich gibt es auch Reformierte, welche die Sozialhilfe und Entwicklungshilfe kürzen wollen oder die Seenotrettung ablehnen. Die Kirche hat dennoch die Berufung, sich für Schwache einzusetzen, sie lässt sich nicht auf Spiritualität reduzieren. Zwingli sagte: «Die Grossen dieser Welt sind gern bereit, die Predigt der Wahrheit zu dulden, solange man ihre Willkürherrschaft nicht an den Pranger stellt.» Fehlt der Mut, politisch zu predigen, können wir auf der Kanzel auch Dudelsack spielen, um erneut den Reformator zu zitieren.

Die Kirche hat einen Versöhnungsauftrag. Aber indem wir die Differenzen und Missstände einfach schönreden, stiften wir keinen Frieden.

Das ist ja das Problem: Mitglieder fühlen sich an den Pranger gestellt.

Dass sie sich beschämt fühlen, kann ich verstehen. Mit der Botschaft der Gnade ist Beschämung nicht vereinbar. Dennoch gibt es Situationen, in denen wir dieses Risiko eingehen müssen – wenn es um Apartheid und Rassismus geht zum Beispiel.

Das bestreitet kaum jemand.

Für mich zählen auch der Kampf für Menschlichkeit gegenüber Asylsuchenden und gegen wirtschaftliche Ausbeutung dazu. Ich habe mich intensiv mit den Reden Martin Luther Kings befasst. Es ist krass, wie aktuell sie klingen. Aus dem Gefängnis schreibt er, wie ihn die gemässigten weissen Kirchen enttäuschten, weil sie einen Busboykott nicht unterstützten: «Allzu gross war die Zahl der Geistlichen, die schweigend hinter der betäubenden Sicherheit ihrer bunten Kirchenfenster verharrten.» Bei diesem Bild musste ich an unsere Kirche denken.

Die Kirche duckt sich weg?

Ich wende viel Zeit für die Seelsorge auf, Diakonie war lange mein Schwerpunkt. Die Kirche hat einen Versöhnungsauftrag. Aber indem wir die Differenzen und Missstände einfach schönreden, stiften wir keinen Frieden. King schreibt, er habe geweint, es seien jedoch Tränen der Liebe gewesen. Die Liebe ist der Antrieb: die Liebe zu Christus, zur Kirche, zur Welt.

Catherine McMillan (59)

Die Pfarrerin in Schwerzenbach war Reformationsbotschafterin der Zürcher Landeskirche. Sie ist in Schottland geboren und in den Südstaaten der USA aufgewachsen. Die Interviewserie von «reformiert.» startete mit einem Ge­spräch mit Alexander Heit, Pfarrer in Herrliberg.