Recherche 19. Mai 2021, von Delf Bucher

Ein Gipfeli wird zum Medienhype

Kirchenraum

Eine schlagzeilenträchtige Geschichte aus Baden führt zu Grundsatzfragen: Was darf man in einer reformierten Kirche tun, was nicht?

Eine alltägliche Corona-Geschichte hat sich in der reformierten Kirche Baden zugetragen und eine Skandalisierung erfahren. Für Frank Worbs, Kommunikationsverantwortlicher der Landeskirche Aargau, ist das «eigentlich eine Nichtstory», die den Bedürfnissen der aktuellen Empörungskultur folge. Die Nichtstory geht so: Eine Kirchenbesucherin isst bröselige Gipfeli und trinkt einen Kaffee in der reformierten Kirche Baden. Sigristin Kettly Knörle bittet sie, der in der Kirche wie in allen anderen öffentlichen Gebäuden verhängten Maskenpflicht nachzukommen. Das provoziert die Besucherin zu lautstarkem und unangemessenem Verhalten. Zum Schluss fühlt sie sich so im Recht, dass sie selbst die Polizei ruft.

Die Würde des Raums

Obwohl die Polizei ihr erklärt, dass die Sigristin sich korrekt verhalten habe, wendet sich die empörte Frau ans «Badener Tagblatt», welches der Geschichte einen weiteren Dreh gibt: Arme Slowakin wurde von pflichtgetreuer Sigristin aus dem warmen Kirchenschiff erbarmungslos in die Kälte vertrieben. 

Diese Storyline findet später Eingang bei «20 Minuten», beim  grenznahen «Südkurier» und bei einigen Online-Portalen. Das ist kaum verwunderlich: Auf der Facebook-Seite von «20 Minuten» hagelt es kirchenkritische Kommentare. O-Ton: «So viel zu Nächstenliebe ... die in der Kirche gepredigt wird. Amen.»

Freimütig räumt Frank Worbs ein, dass es in dieser Konstellation schwierig sei, zu kommunizieren: «Die Kirche oder ihre Mitarbeitenden werden in so einer Situation gern als seelenlose Organisation dargestellt. Wie Goliath in der Bibel auf den viel kleineren David losgeht, so geschieht es nun der scheinbar ungerecht behandelten Frau.» So gehöre alle Sympathie zuallererst der einzelnen Frau.

Frank Worbs stellt indes heraus, dass Kirchen von Menschen mit unterschiedlichen emotionellen und spirituellen Erwartungen besucht werden. Trotz der Willkommenskultur in der Kirche müsse aus Rücksicht auf die Gefühle der anderen Menschen auch die Würde des Kirchenraums respektiert werden.

Keine Ersatz-Imbissstube

Die gleiche Meinung vertritt die Badener Pfarrerin Kristin Lamprecht. Auch sie betont, dass viele Menschen mit spirituellen Bedürfnissen die Kirche besuchten. Eine Ersatz-Imbissstube in Corona-Zeiten dagegen würde diesem Bedürfnis zuwiderlaufen. Die Pfarrerin war in der Kirche zugegen, als die Gipfeli-Esserin ihr Znüni einnahm. 

Manches Badener Gemeindemitglied fragte die Pfarrerin, warum man denn der Frau keinen Platz im nahe gelegenen Kirchgemeindehaus angeboten habe. «Unter normalen Umständen wäre das selbstverstänlich  eine sehr naheliegende Idee gewesen. Aber hier hat einfach der Ton nicht gestimmt.» Ist aber nach reformierter Theologie der Kirchenraum nicht ein profaner Raum, der erst durch die versammelte Gemeinde sakral wird? An diesem reformierten Grundpfeiler macht Pfarrer Res Peter keinen Abstrich: «Prinzipiell ist alles erlaubt, aber nach den Regeln, die sich die Gemeinschaft selber gibt.»

Dem liberalen Theologen ist es wichtig zu betonen: «Regeln kann man ändern.» Vor 20 Jahren seien Kerzen im Kirchenraum noch stark umstritten gewesen. «Viele sagten zu uns Pfarrerinnen und Pfarrern: Das ist doch katholisch.» Heute seien die Kerzen etabliert. Auch ein grosses Essen ist nach Ansicht von Pfarrer Peter möglich, wenn es in einem rituellen Rahmen stattfindet. In seiner früheren Gemeinde in Zürich-Neumünster wurde einmal im Jahr das Abendmahl mit einem grossen Mahl gefeiert. «Für meine Grosseltern wäre das Auftischen in der Kirche ein No-Go gewesen.»

Manchmal setzt aber die Gemeinschaft nicht selbst die Regeln, sondern der Staat. In diesen besonderen Corona-Zeiten versammeln sich die Gläubigen in der reformierten Kirche Baden schon lange nicht mehr am Abendmahltisch, sondern verlassen die Kirche mit einem «Abendmahl to go» – also mit eingeschweisstem Brot und einer kleinen Dose Traubensaft. Der Kommentator auf Facebook zum «Gipfeli-Gate» von Baden liegt komplett falsch, wenn er schreibt: «Ach, du heiliger Moralapostel ... Was mached denn ihr, wenns Brot broche wird und de Wii uusgschenkt wird?»