«Der Tod ist ein Geheimnis, eine Geburt ins Jenseits»

Seelsorge

Das ökumenische Projekt «Palliative Seelsorge daheim» unterstützt Menschen, die zu Hause sterben möchten. «reformiert.» hat Markus Naegeli bei zwei Besuchen begleitet.

Das Schwere und das Leichte liegen manchmal ganz nah beieinander. «Weisst du noch, wie ihr zusammen Cremeschnitten gegessen habt?», fragt Ursula Hagedorn Pfarrer Markus Naegeli. Eben noch hat sie ihm mit brüchiger Stimme erzählt, wie die schmerzhaften Erinnerungen an die letzten gemeinsamen Wochen mit ihrem Mann sie bis in ihre Träume verfolgen. Doch nun schmunzeln die beiden und Naegeli sagt: «Auch als Richard fast nichts mehr zu sich nahm, ass er noch gern eine Cremeschnitte.» Ursula Hagedorn lacht. «Du stauntest, wie schnell sie weg war!»  

Die Witfrau und der Pfarrer sitzen an diesem Winternachmittag in Hagedorns Wohnzimmer in Wetzikon und schauen gemeinsam auf die vergangenen eineinhalb Jahre zurück. Vor fast genau einem Jahr, am 8. März 2023, hat Richard Hagedorn hier in dieser Wohnung seinen letzten Atemzug getan. Er war schon länger krank gewesen. Ein wüster Infekt hatte ihm vor zwei Jahren jedoch derart schwer zugesetzt, dass er sich davon nicht mehr erholte.  

Neue Nähe vor dem Tod

«Mein Mann und ich redeten sehr offen über Sterben und Tod, und wir schonten einander nicht», erinnert sich Ursula Hagedorn. Richard habe sich gewünscht, zu Hause zu sterben – aber nur, wenn es für seine Frau machbar wäre. Die pensionierte Pflegefachfrau wollte ihm diesen Wunsch erfüllen, «er war die Liebe meines Lebens.» In seinen letzten Lebenswochen seien sie einander so nah gekommen, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte. 

Ohne Unterstützung durch die Spitex und die mobile Palliativpflege des Spitals Wetzikon wäre es allerdings nicht gegangen. Als Letztere ein Gespräch mit einem Seelsorger vorschlug, sagte das Ehepaar zu. «Obwohl wir beide nie Kirchgänger waren», so Hagedorn. 

Spirituelles Leiden

Im Oktober 2022 kam Naegeli das erste Mal auf Besuch. Der ehemalige Spitalseelsorger ist Teil des zehnköpfigen Teams von «Palliative Seelsorge. Begleitung daheim», einem ökumenischen und unentgeltlichen Angebot der katholischen und reformierten Kirche des Kantons Zürich. 2017 mit dem Ziel gegründet, schwerkranke Menschen und ihre Nächsten zu Hause seelsorgerisch zu betreuen, ist es als Ergänzung zu den lokalen Pfarrpersonen gedacht, die zeitlich oft stark ausgelastet sind.  

Im Zürcher Oberland vermittelt jeweils das Palliative-Care-Team des Spitals Wetzikon den Dienst. «Wir haben festgestellt, dass sterbende Menschen oft nicht nur körperlich leiden, sondern auch auf spirituell-existenzieller Ebene grossen Bedarf an Unterstützung haben», sagt Andreas Weber, Palliativmediziner am Spital Wetzikon. Das gelte ebenso für deren Angehörige. 

Viele kommen nicht auf die Idee, seelsorgerische Hilfe zu suchen, fin­den sie dann aber hilfreich.
Andreas Weber, Leiter Palliativmedizin Spital Wetzikon

Oft kämen die Betroffenen nicht auf die Idee, seelsorgerische Hilfe zu suchen, weil sie keinen Bezug mehr zur Kirche hätten. «Doch dann empfinden viele die Begleitung als sehr hilfreich», sagt Weber. 

Auch Ursula Hagedorn erlebte es so. Als ihr Mann bereits bettlägerig war, setzte sich der Pfarrer jeweils zuerst zu ihr ins Wohnzimmer, bevor er ans Krankenbett ging. Sie sei sehr froh, dass mit Markus Naegeli eine aussenstehende Person in ihr Leben getreten sei, der ihr zuhörte und das Schwere mittrug, bei dem sie sich nicht verstellen musste, sondern sich mit all dem zeigen konnte, was gerade in ihr vorging. «Es gab so viel Belastendes in dieser Zeit, aber auch viel Schönes.» 

Allein in der Kirche

Über die Monate ist eine Vertrautheit zwischen den beiden gewachsen, die geprägt ist von Offenheit, von Verständnis und Dankbarkeit. Naegeli erinnert sich an seinen letzten Besuch vor Richard Hagedorns Tod: «Du fragtest mich, ob ich mit euch beten würde. Das war ein besonderer Moment, auch für mich.» 

Ursula Hagedorn nickt: «Es war eine spontane Idee.» Kurz zuvor habe ihr Mann gesagt, er sei nun bereit heimzugehen. Tränen steigen jetzt in ihre braunen Augen, sprechen geht gerade nicht mehr. Ein mitfühlender Atemzug von Naegeli macht das Schweigen erträglich.  

Doch nun richtet sich die Frau wieder auf. «Trauer braucht Zeit», sagt sie bestimmt. Dass der Pfarrer sie auch darin begleite, dafür sei sie extrem dankbar. Nach Richards Tod ist sie in ein Loch gefallen – vor Erschöpfung, aber auch, weil plötzlich alle weg waren: ihr Mann, die Spitex, der Arzt. Ihre erwachsenen Kinder rufen zwar jeden Tag an, sie wolle sie aber nicht zu stark mit ihrem Trauerprozess belasten.  

Hagedorn blickt auf die rot-gelben Tulpen, die auf dem Beistelltischchen stehen. «Mein Mann fehlt mir jeden Tag, aber langsam kommt wieder Farbe in mein Leben.» Nach dem Friedhofsbesuch gehe sie oft in die leere Kirche und sitze allein in der Stille. «Das erdet mich und ist etwas vom Schönsten.» Markus Naegeli verabschiedet sich von Ursula Hagedorn und geht zu seinem Auto. Die Sonne scheint und die Luft ist lau. Einen Moment lang wirkt der Frühling zum Greifen nah.  

Der Störseelsorger, der von der Kirche in einem 20-Prozent-Pensum angestellt ist, fährt zu seinem nächsten Besuch nach Wald, zum 91-jährigen Henri Wild. Unterwegs erzählt er von seiner zweiten Leidenschaft, dem Amateurfussball. Bald wird der fitte Senior wieder als Schiedsrichter auf dem Rasen stehen, wo ähnlich wie in der Seelsorge seine volle Präsenz gefordert ist. Mitten unter den kräftigen Fussballerinnen und Fussballern in diesem lebendigen Spiel zu sein, sei für ihn ein super Ausgleich zur Begleitung der Sterbenden am Lebensende. 

Umfragen zeigen seit Jahren praktisch konstant, dass in der Schweiz drei Viertel der Menschen am liebsten zu Hause sterben möchten. Die Realität sieht allerdings anders aus: 2022 starben laut Bundesamt für Statistik 44 Prozent in einem Heim, 38 Prozent in einem Spital und nur 18 Prozent in ihrem Zuhause oder an übrigen Orten.

Auf den Tod warten

«Häufig werden Menschen in den letzten Tagen oder Wochen vor dem Tod bettlägerig oder sind nicht mehr klar im Kopf», sagt Palliativmediziner Andreas Weber. Für diese letzte Phase braucht es neben Spitex und mobiler Palliativpflege Nahestehende oder private Pflegepersonen, die rund um die Uhr anwesend sein können. Mit den Betroffenen darüber zu sprechen, ist eine Aufgabe der Mitglieder des Palliativteams. 

Bei Henri Wild absolviert Naegeli heute seinen vierten Besuch. Der alte Mann lebt allein im Einfamilienhaus, das er vor vielen Jahrzehnten für seine Familie baute. Seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Der Junior, wie er den Sohn nennt, lebt in Padua, die Tochter in Bern. 

Henri Wild wartet auf den Tod und will keinesfalls nochmals ins Spital. Das stellte er bereits bei Naegelis erstem Besuch Anfang Januar klar. «Heute ist kein guter Tag, aber man kann es nicht auswählen», sagt er bei der Begrüssung. Er wirkt wie einer, der kein Blatt vor den Mund nimmt, das Unausweichliche aber gern mit einer Prise Humor würzt. Auf zwei Krücken gestützt, schlurft er gebückt in kleinen Schrittchen an seinen Platz am Küchentisch.

Naegeli setzt sich dazu und erkundigt sich nach den Gründen für das Missbefinden. Es stellt sich heraus, dass die gesundheitlichen Beschwerden Henri Wild heute so in Beschlag nehmen, dass er kaum am Computer arbeiten konnte. Und die Bratwurst, die die Spitex am Mittag brachte, ist immer noch im Ofen.  

Der Märklin-Mann, wie er sich selbst nennt, erzählt nun ausführlich von seinen Buchprojekten. Ein Werk über die Märklin-Lokomotiven aus den Jahren 1891 bis 1953 hat er bereits herausgegeben. Zwei weitere über die Eisenbahnwagen sind in Arbeit und auf seiner Website bereits angekündigt. Jetzt fehle nicht mehr viel, sagt Wild: «Ich habe dem Junior schon alle hochaufgelösten Bilder geschickt.» 

Naegeli hört zu, fragt nach und meint dann: «Sie möchten noch etwas Sinnvolles tun mit Ihrer Zeit. Das Buch spornt Sie an.» Der alte Mann überlegt einen Moment: «Wissen Sie, das Buch ist weltlich.» Jetzt gerade möchte er noch nicht gehen, aber seit dem letztem Besuch des Pfarrers habe er nachgedacht: «Wir alle sind nur Werkzeuge», sagt er mit Nachdruck. Und dann fügt er nach einer Pause hinzu: «Ich habe das Gefühl, wir werden von der Allmacht gesteuert.»  

Die Allmacht. Während Henri Wild sagt, dass er noch nie ein Kirchenmensch gewesen sei, die Allmacht aber jetzt im hohen Alter durchaus erfahre – «ja, es ist ungeheuerlich, grossartig und verrückt!» –, wirkt er berührt und beglückt. «Wir machen immer alles so kompliziert, dabei ist der Glaube doch ganz einfach. Ich kann es fast nicht fassen, dass es so einfach ist!» Schon immer habe er mit einem Pfarrer reden wollen, «obwohl, früher hätte ich wohl mit Ihnen gestritten», räumt er ein. Die beiden Männer lachen.

Eine Kerze zum Abschied

Das Gespräch mäandert weiter. Nach einer knappen Stunde verabschiedet sich Naegeli. Nicht ohne den alten Mann daran zu erinnern, bald die Bratwurst zu essen

Seelsorge sei immer ein Geben und Nehmen, sagt der Pfarrer auf dem Rückweg. «Jede Begegnung ist ein Geschenk und Anstoss, über das eigene Leben und dessen Endlichkeit nachzudenken.» 

Zu Hause wird sich der Seelsorger kurz an seinen Schreibtisch setzen und Notizen zu den beiden Besuchen machen. Stirbt ein Mensch, den er betreute, zündet Naegeli eine Kerze an. Abschiednehmen mache etwas mit einem. «Der Tod ist ein Geheimnis», sagt er, «eine Neugeburt ins Jenseits.»

Begleitung am Lebensende

«Palliative Seelsorge. Begleitung daheim» ist ein Angebot der katholischen und reformierten Kirche des Kantons Zürich und kann unabhängig von der Konfession in Anspruch genommen werden. 2023 machte das Team 514 Besuche und führte 286 seelsorgeri-sche Telefongespräche. Bei 39 Prozent der begleiteten Personen war die Religionszugehörigkeit nicht bekannt, 57 Prozent waren christlichen Glaubens, zwei Prozent gehörten einer anderen Religion an.  

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