Sie war ein Kind zweiter Klasse

Verdingkinder

Liselotte Gerber wuchs bei einer fremden Familie auf. Liebe erlebte sie nicht, dafür Gewalt. Dass sie heute glücklich ist, hat mit ihrer Grossfamilie zu tun – und dem Fussball.

Liselotte Gerber trägt eine Erinnerung mit sich: Sie ist fünf Jahre alt und sitzt bei ihrer Mutter auf dem Spitalbett. Es ist das letzte Mal, dass das Mädchen seine Mutter sieht. Die Mutter stirbt und hinterlässt ihren Mann und vier Kinder. Liselotte ist die Zweitjüngste. «In diesem Moment begann mein schwieriges Leben», so hat es Liselotte Gerber vor vier Jahren formuliert, als sie sich endlich erlaubte, über ihre Kindheit und Jugend nachzudenken und vor allem: ihren vier erwachsenen Kindern davon zu erzählen.

Seither besucht sie auch Schulklassen und berichtet von der Zeit bis weit ins 20. Jahrhundert, als in der Schweiz Zehntausende von Kindern ihren Eltern weggenommen und umplatziert wurden – auch von den Kirchenbehörden.

Wie Päckli hat man uns herumgeschickt.
Liselotte Gerber

Für die kleine Liselotte begann nach dem Tod der Mutter eine jahrelange Leidenszeit. Sie und ihre drei kleinen Geschwister durften nicht daheim beim Vater in Thun bleiben. «Wie Päckli hat man uns herumgeschickt», erzählt sie. Sie sitzt im Wohnzimmer ihres grossen Einfamilienhauses in Büren an der Aare und blickt hinaus in den gepflegten Garten. Eine bunte Plastikrutschbahn, ein Klettergerüst sowie viele Spielsachen zeugen dort von der Anwesenheit von Kindern. Noch bis vor vier Jahren führte Liselotte Gerber einen Kinderhort. Ausserdem hat sie inzwischen elf Enkelkinder in ihrer Patchwork-Familie.

Seit über 20 Jahren ist sie mit ihrem zweiten Ehemann Jörg verheiratet. Er war der erste Mensch, dem sie alles über ihre Vergangenheit als Verdingkind erzählte. «Ich hatte Augenwasser, als ich hörte, was sie alles durchmachen musste», sagt er.

Ich konnte schreien, so laut ich wollte, aber niemand hörte mich.
Liselotte Gerber

Liselottes Pflegeeltern führten eine Dorfschmiede. Ihr Nachbar war ein Grossbauer. «Es mangelte also nicht an Arbeit», erzählt Gerber. Dafür an allem anderen, was ein fünfjähriges Kind gebraucht hätte: Liebe, Fürsorge, Verständnis, genug Nahrung und Wärme. Das alles war dem leiblichen Sohn der Familie vorbehalten. «Ich war das Kind zweiter Klasse», sagt Liselotte Gerber. Der Bub habe das gnadenlos ausgenützt. Eines Tages zerbrach er eine Tasse und gab Liselotte die Schuld. Die Pflegemutter schlug sie so heftig, dass sie ein blaues Auge davontrug. Sie wurde zwei Tage lang nackt in den Keller eingesperrt und bekam nichts zu essen. «Ich konnte schreien, so laut ich wollte, aber niemand hörte mich.»

Liselotte musste von ihrem achten Geburtstag an auf dem Nachbarhof arbeiten und mit den Pferden das Feld pflügen. Sie wurde vom Knecht vergewaltigt und bedroht: «Wenn du es irgendwem erzählst, passiert dir noch etwas viel Schlimmeres.» Liselotte schwieg. «Wem hätte ich mich auch anvertrauen sollen?», fragt sie.

Liselotte Gerber schwieg viele Jahre lang. Sie habe ihre Kindheit und Jugend irgendwo tief in sich vergraben, sagt sie. Bis sie ihren Mann Jörg kennenlernte. Gerber sagt, sie könne leichter atmen, seit sie alles ihrer Familie erzählt habe. Regelmässig und gerne besucht sie auch das Erzählbistro in Bern, einen Begegnungsort für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Ich arbeitete viel und tat alles, damit meine Kinder einen guten Start ins Leben haben.
Liselotte Gerber

Als Zwölfjährige nahm Liselotte ihr Leben zum ersten Mal in die eigenen Hände: Sie stieg ohne einen Rappen in der Tasche in einen Zug. Dem Kondukteur erzählte sie vom Martyrium in ihrer Pflegefamilie. «Er brachte mich zu meinem Vater nach Thun», erzählt sie. Das Mädchen musste nicht mehr zu der Pflegefamilie zurück. Stattdessen kam sie ins Kinderheim in Thun.

Das Leben meinte es auch in den kommenden Jahren nicht gut mit ihr. Im Welschlandjahr landete die 16-Jährige bei einer Familie, in der sie für 40 Franken im Monat schuftete und wieder geschlagen wurde. Als 18-Jährige wurde sie schwanger. «Ich war naiv und wusste gar nichts. Niemand hatte mich aufgeklärt.» Sie heiratete den Vater des Kindes, der auch noch sehr jung war. Das Paar bekam drei weitere Kinder. Als ihr Mann bei einem Unfall ums Leben kam, war Gerbers grösste Angst, dass ihr jemand die Kinder wegnehmen würde. «Ich arbeitete viel und tat alles, damit sie einen guten Start ins Leben haben.»

Meine Familie hat mich gerettet.
Liselotte Gerber

Am Wohnzimmertisch sitzt einem eine lebenslustige und humorvolle Frau gegenüber, der man ihre 78 Jahre nicht ansieht. Eben ist ihr jüngster Sohn vorbeigekommen, denn Liselotte Gerber hat heute Geburtstag. Später werden die Gerbers bei ihrer Tochter zum Essen erwartet.

«Meine Familie hat mich gerettet», sagt Liselotte Gerber. Und der Fussball, wie ihr Sohn ergänzt. Die Mutter lacht: «Ja, Fussball ist meine ganz grosse Leidenschaft.» Noch immer trainiert sie regelmässig Buben und Mädchen und spielte als junge Frau sogar im Damen-Nationalteam. «Es geht mir gut», sagt Liselotte Gerber. Vergessen werde sie aber die Zeit als Verdingkind nie. «Keiner kann das vergessen. Keiner sollte jemals vergessen, dass so etwas in der Schweiz möglich war.»

Zeichen der Erinnerung

Vom 25. Mai bis zum 8. Juni werden an diversen Orten die Berner «Zeichen der Erinnerung» (Zeder) gesetzt. Zum Beispiel mit Ausstellungen oder Gesprächsrunden. 
Damit soll an die Kinder und Jugendlichen erinnert werden, die in der Schweiz bis in 
die 1970er-Jahre Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen waren und noch heute unter den Folgen leiden.

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