Recherche 30. August 2023, von Marius Schären

«Flüchtlinge» oder «Migranten» unterschiedlich willkommen

Migration

Auf den Weg in eine neue Heimat machen sich immer mehr Menschen auf der Erde. Wie sie bezeichnet werden, hat in den Zielländern direkt Einfluss darauf, wie willkommen sie sind.

Bei den baldigen Schweizer Bundeswahlen ist der Fokus zumindest der wählerstärksten Partei klar: Auf der Website finden sich unter der entsprechenden Rubrik reihenweise Bilder mit teils blutigen Messern, Einbruchsituationen und anderen Gewalttaten mit angeblich eindeutigen Schuldigen: der «Mitte-Links»-Politik und den «Asylanten». In den Texten der Wahlparolen prägen stark negativ behaftete Worte die Sprache.

Vorurteile werden durch Bezeichnungen geprägt

Eine kürzlich publizierte Studie wird nichts daran ändern, dass dies weiterhin so passiert. Das ist Sylvie Graf klar. Sie arbeitet als «Senior Researcher» am Institut für Psychologie der Universität Bern und ist Hauptautorin des internationalen Forschungsprojekts «Migranten, Asylbewerber und Flüchtlinge: Unterschiedliche Bezeichnungen für Einwanderer beeinflussen die Einstellungen durch wahrgenommene Vorteile in neun Ländern». Graf sagt auf Anfrage: «Natürlich sind diejenigen, die unsere Empfehlungen am meisten befolgen sollten, auch diejenigen, die am wenigsten daran interessiert und motiviert sind, dies zu tun.»

Befragung in neun Ländern bei fast 3000 Menschen

Mit einer von der Uni Bern initiierten Studie in neun Ländern (Australien, Tschechische Republik, Finnland, Frankreich, Italien, Portugal, Schweden, Schweiz und Vereinigtes Königreich) wurde untersucht, wie sich Bezeichnungen für Zugewanderte auf die Einstellung gegenüber diesen Menschen auswirken.

Zuerst eruierten die Forschenden, dass in Bezug auf die «Flüchtlingskrise» die Bezeichnungen «Migrant», «Flüchtling» und «Asylbewerber» die am häufigsten verwendeten Begriffe waren für Menschen auf der Flucht. Dann ordneten sie knapp 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip einer von drei Gruppen zu. Dort befragten sie die Einstellung der Teilnehmenden gegenüber Zugewanderten unter je einer der drei Bezeichnungen. Dabei wurde nach positiven (wie etwa wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, kulturelle Bereicherung oder positives Image) als auch negativen Aspekten gefragt.

Fazit: Die Teilnehmenden waren zufriedener, wenn Migranten und nicht Asylbewerber oder Flüchtlinge ihre Nachbarn, Freunde oder Partner waren. Der Effekt wurde durch wahrgenommene Vorteile, aber nicht durch Bedrohungen vermittelt, wobei Migranten der aufnehmenden Gesellschaft mehr Vorteile brachten als Asylbewerber und Flüchtlinge.

Eine Zusammenfassung der Studie auf Englisch gibt es hier.

Trotzdem wäre es wichtig, die neuen Erkenntnisse ernstzunehmen, findet Graf. Denn in der «zunehmenden politische Radikalisierung und ideologische Polarisierung» sei die Einwanderung eines der zentralen Themen, das Gesellschaften spaltet und so Demokratien untergraben kann. 

Als «praktikable Strategie» sieht die Forscherin deshalb eine präzise Kommunikation. «Wir schlagen vor, die im Diskurs über zugewanderte Menschen verwendeten Bezeichnungen zu erläutern, indem beispielsweise die Merkmale und Gründe für die Migration der jeweiligen Zuwanderungsgruppe angegeben werden.» 

Vorteile der Zuwanderung hervorheben

Auch seien die Vorteile hervorzuheben, die die Zuwanderung den Aufnahmegesellschaften bietet. Das könnte der in vielen Gesellschaften vorherrschenden negativen Wahrnehmung von Zuwanderung entgegenwirken. Diese Folgerungen zieht Sylvie Graf aus dem Fazit der Studie. Gemäss der Untersuchung werden Zugewanderte nämlich je nach Bezeichnung mehr oder weniger willkommen geheissen: «Flüchtlinge» und «Asylbewerber» deutlich weniger als «Migranten.»

Untersuchungen aus der Flüchtlingsforschung zeigen, dass die Verwirrung bei der Verwendung von Bezeichnungen für Einwanderer nicht zufällig ist oder eine blosse Folge von mangelndem Wissen ist.
Sylvie Graf, Senior Researcher am Institut für Psychologie der Universität Bern und Hauptautorin der Studie

Auslöser für das Forschungsprojekt waren hauptsächlich zwei Punkte, wie Graf darlegt: die starke Zunahme von Menschen auf «Wanderschaft» in den vergangenen Jahren und die bisher fehlenden Untersuchungen. «Wissenschaftliche Belege für die Auswirkungen von Begriffen für zugewanderte Menschen auf die Einstellung der Bevölkerung gegenüber den Zugewanderten waren bisher nicht schlüssig», hält die Forscherin fest. 

Die «Flüchtlingskrise»

Und: Im Jahr 2022 habe die Zahl der Vertriebenen zum ersten Mal in der Geschichte 100 Millionen erreicht – ein Meilenstein, der gemäss der Studienleiterin für Fachleute vor zehn Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Der beispiellose Zustrom von einwandernden Menschen nach Europa begann im Jahr 2015 und wurde von den Massenmedien als «Flüchtlingskrise» bezeichnet. 

Zudem wurden von den Bezeichnungen für die flüchtenden Menschen selbst auch ganz bewusst die negativ behafteten verwendet. «Untersuchungen aus der Flüchtlingsforschung zeigen also, dass die Verwirrung bei der Verwendung von Bezeichnungen für Einwanderer nicht zufällig ist oder eine blosse Folge von mangelndem Wissen ist», hält Graf fest. 

Migrationsgrund unterscheiden «sachlich sinnvoll»

Für die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) sind die Studienergebnisse «wenig überraschend». Und Konsequenzen für die Kommunikation zum Thema Migration würden sie nicht direkt haben, teilt Stephan Jütte, Leiter des Kompetenzzentrums Theologie und Ethik der EKS, auf Anfrage mit.

Wir orientieren uns an dem, was das Recht vorgibt und was wir aus christlich-ethischen Überzeugungen richtig finden.
Stephan Jütte, Leiter des Kompetenzzentrums Theologie und Ethik der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS)

«Grundsätzlich finden wir es sachlich sinnvoll zu unterscheiden, ob von Menschen, die auf der Flucht sind und Schutz suchen die Rede ist oder von Menschen, die sich aus sozialen und ökonomischen Gründen eine neue Lebensgrundlage aufbauen wollen», sagt Jütte. Aber den Mitgliedkirchen schlage die EKS kein Wording vor. 

Im Handeln richte sich seine Haltung weniger danach, welche Begriffe positivere oder negativere Assoziationen auslösen, hält der Theologe weiter fest. «Wir orientieren uns an dem, was das Recht vorgibt und was wir aus christlich-ethischen Überzeugungen richtig finden.»