Recherche 29. Januar 2021, von Katharina Kilchenmann

Bleiben dürfen sie nicht, gehen können sie nicht

Migration

Abgewiesene Asylbewerber leben oft lange in einem System, das nicht auf Dauer angelegt ist. Besonders hart trifft es die Kinder. Der Zustand sei zumutbar, sagen die Behörden.

«Herzlich willkommen im RZB Biel-Bözingen.» So heisst es auf einem grossen Schild beim Eingang des Rückkehrzentrums, das mitten in einem Industriegebiet steht. Ein kalter Wind weht über das Containerdorf hinter dem mannshohen Maschenzaun hinweg. Von der nahen Autobahn her sind Lastwagen zu hören. Eine Haltestelle verspricht Busse von und nach Biel. Ansonsten gibt es hier wenig für die 108 Menschen. In der Pandemie ist das RZB nur zur Hälfte ausgelastet. Die Bewohnerinnen und Bewohner stammen aus 21 Ländern: Erwachsene, unbegleitete Jugendliche, Familien. Ihr Asylantrag wurde definitiv abgelehnt. Sie müssen die Schweiz verlassen und dürfen keine Sozialhilfe beziehen. Weggewiesene leben von der Nothilfe.

Gemäss Bundesverfassung steht die minimale Unterstützung allen Menschen zu, die in Not geraten sind, um ihnen ein «menschenwürdiges Dasein» zu sichern. Einzelpersonen erhalten neben Unterkunft und obligatorischer Krankenversicherung acht Franken Taggeld, für Familiemitglieder sind es 6.50. Das muss reichen für Nahrung, Kleidung und Hygiene. Weggewiesene Personen dürfen weder arbeiten – auch nicht ehrenamtlich – noch sich weiterbilden. Kinder haben Zugang zur Volksschule.

Fluchtgründe im Dunkeln

Tenzin Choten kommt aus Tibet und lebte bis vor Kurzem mit seiner Familie im RZB Biel-Bözingen. Er zeigt auf einen der Container in der letzten Reihe. «Im Sommer war es dort drin heiss, im Winter klirrend kalt. Und die Küche auf der anderen Seite des Camps, die wir mit allen Bewohnern teilten, war oft schmutzig.» 2013 war Tenzin Choten in die Schweiz geflohen, seine Frau folgte ihm ein Jahr später. Bis heute mussten sie neunmal umziehen.
Zuerst lebte die Familie in einer kleinen Wohnung, dann immer in Asylzentren, und nach der Ablehnung ihres Asylantrags im Rückkehrzentrum. «Hier war es oft sehr laut, weil die Bewohner sich stritten», fährt der junge Tibeter in gebrochenem Deutsch fort. Nachts sei die Polizei gekommen, um jemanden abzuführen. Sein Sohn habe bis heute Angst deswegen.

Seit einigen Wochen lebt die Familie nun dank einer privaten Initiative in einer Wohnung im Dorf. Der fünfjährige Sohn besucht den öffentlichen Kindergarten. In einer wilden Mischung aus Hochdeutsch, Mundart, Tibetisch und einer Fantasiesprache erklärt er, wie froh er sei, nicht mehr im Camp zu sein. 

Unser Leben ist seit Jahren wie ein endloser Lockdown.
Tenzin Choten, abgewiesener Asylbewerber

Warum genau Tenzin seine Heimat verlassen hatte, sagt er nicht. Politische Probleme, Repressionen hätten ihn dazu gezwungen. Klar ist aber: Dahin zurückkehren können sie nicht. In der Schweiz bleiben allerdings auch nicht.
Eine schwierige Situation. Dessen ist sich auch das zuständige Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern (Abev) bewusst. «Dass die in den kantonalen Rückkehrzentren untergebrachten Personen aufgrund unsicherer Zukunftsperspektiven grossen psychischen Belastungen ausgesetzt sind, steht ausser Frage», schreiben sie auf Anfrage. Und dennoch: «Eine menschenwürdige Unterbringung ist in jedem Fall möglich.» Den Bedürfnissen der Kinder werde besondere Aufmerksamkeit geschenkt. «Spielsachen und Spielplätze stehen zur Verfügung, der Schulunterricht ist gewährleistet», hält das ABEV fest.

Nothilfe ist keine Dauerlösung

Dass, wer einen negativen Asylentscheid erhält, in sein Herkunftsland zurückkehren müsse, stellt auch Daniel Winkler nicht infrage. Der Pfarrer in Riggisberg setzt sich seit Jahren für abgewiesene Asylbewerber in Nothilfe ein. «Wenn sich eine Rückkehr verzögert oder unmöglich ist, wird die Nothilfe, die für eine kurze Zeitspanne vorgesehen ist, zur Dauerlösung.» Dafür sei sie nicht konzipiert. Ganz besonders litten darunter die Kinder. «Die Umgebung in Rückkehrzentren ist alles andere als kindgerecht.»

Kontakt mit anderen Kindern sei kaum möglich, Orte zum Spielen gebe es nicht wirklich. Einige besuchten zwar die öffentliche Schule oder Empfangsklassen, Kinder lebten in den Rückkehrzentren aber in ständiger «prekärer Unsicherheit» und partizipierten an der Verzweiflung ihrer Eltern. «Das führt zu sozialer Iso-lation und nachhaltigen Entwicklungsstörungen», so Winkler.  
Tenzin Choten ist froh, dass er und seine Familie nicht mehr im Rückkehrzentrum wohnen. «Wir sind den lieben Menschen, die uns das ermöglichen, unendlich dankbar», meint er. «Trotzdem ist unser Leben seit Jahren wie ein endloser Lockdown.»

Kritik am Umgang mit Minderjährigen

Ende 2019 lebten 3227 Personen in der Schweiz von Nothilfe, davon waren 572 Kinder. Zuständig für ihre Unterbringung und Betreuung sind die Kantone. Der Bund entschädigt die Nothilfekosten mit einer einmaligen Pauschale pro Fall. Die Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht SBAA stellte in ihrem kürzlich veröffentlichten Bericht der Schweiz im Umgang mit Minderjährigen kein gutes Zeugnis aus. Die Praxis der Behörden sei restriktiver als in der UNO-Kinderrechtskonvention festgelegt. Zu oft würden migrationspoli­tische Interessen höher gewichtet als die Interessen von Minderjährigen, lautet das Fazit des SBAA.