Recherche 14. April 2020, von Nicola Mohler

«Solidarität darf nicht an der Schweizer Grenze aufhören»

Coronavirus

Der Theologe Matthias Hui erklärt, wieso die Schweiz Flüchtlinge aus der Ägäis evakuieren soll und weshalb der Appell #evakuierenJETZT bitter nötig ist.

An Ostern rief das Netzwerk migrationscharta.ch zusammen mit 110 humanitären Organisationen, Vereinen, Gruppierungen und NGOs in der Schweiz den Bundesrat und das Parlament dazu auf, Geflüchtete aus der Ägäis in die Schweiz zu holen. Wieso kommt dieser Aufruf gerade jetzt?

Matthias Hui: Vor Ostern lancierten wir einen «Osterappell aus den Kirchen an den Bundesrat»: Das Netzwerk migrationscharta.ch fordert den Bundesrat dazu auf, 5000 Geflüchtete aus den griechischen Lagern als Asylsuchende in der Schweiz aufzunehmen. Aber auch Organisationen wie Amnesty International oder die Schweizerische Flüchtlingshilfe und die Landeskirchen haben seit dem Aufkommen der Corona-Krise auf die Situation der Geflüchteten in den Lagern auf Lesbos und anderen griechischen Inseln aufmerksam gemacht. Beim breiten Appell #evakuierenJETZT beteiligen sich nicht nur humanitäre Organisationen, Vereine und NGOs, sondern auch Stadtpräsidenten, Künstlerinnen und Künstler oder Religionsvertreterinnen. Die Situation in den Lagern in der Ägäis ist schon länger dramatisch. Die Corona-Krise verschärft die Situation. Die Zeit drängt.

Die Schweizer Regierung erklärte sich bereits früher dazu bereit, sich an der Evakuierung minderjähriger unbegleiteter Migranten, die Verwandte in der Schweiz haben, zu beteiligen. Ist der Appell #evakuierenJETZT überhaupt nötig?

Dass sich die Schweiz als assoziierter Staat des Dublin-Abkommens an solchen Familienzusammenführungen beteiligt, finde ich nicht nur eine Selbstverständlichkeit, es ist auch ihre Verpflichtung. Neu ist einzig, dass der Familienbegriff grosszügig ausgelegt wird. Ich finde es eigenartig, dass die Schweizer Regierung sich über Monate mit diesem Vorstoss geschmückt hat, ohne dass das Versprechen umgesetzt worden wäre. Noch kein einziger unbegleiteter Minderjährige ist in die Schweiz gekommen. Daran sind sicher nicht nur die Schweizer Behörden schuld. Aber es zeigt, der Druck ist immer noch zu gering. Deshalb: Ja, der Appell ist bitter nötig. Zudem kann es nicht einfach darum gehen, 20 bis 50 Menschen aus den Camps in die Schweiz zu bringen. In der Ägäis leben rund 40 000 Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen. Es gilt die Menschen zu evakuieren.

Dies forderte kürzlich die Europäische Stabilitätsinitiative: Sie veröffentliche einen konkreten Plan, wie 35 000 Menschen von den Inseln auf das Festland gebracht werden könnten. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) wäre dies innerhalb von zwei Wochen umsetzbar.

Griechenland war die letzten Jahre mit den Geflüchteten total überfordert, konnte keine menschenwürdige Situation schaffen. Statt die Menschen von den Inseln auf das griechische Festland zu bringen, gilt es jetzt die europäische Solidarität zu mobilisieren und Griechenland zu entlasten. Die Menschen sollten in anderen europäischen Ländern aufgenommen werden und ein faires Asylverfahren erhalten. Das hat sich mit Corona nicht verändert, ist nur viel dringlicher geworden.

Was fordert der Appell #evakuierenJetzt genau?

Der Osterappell fordert, möglichst viele Menschen in der Schweiz aufzunehmen. Die Schweiz hat nicht nur die finanziellen Mittel, ein Vorbild für andere Länder zu sein. Sie hat auch die nötige Kapazität: Die Asylgesuche in der Schweiz sind seit zwei Jahren rückläufig. Auch wenn die Schweiz 5000 Menschen aufnehmen würde, wäre die Infrastruktur nicht überfordert. Die Hilfsbereitschaft in Städten und Gemeinden, in Kirchgemeinden und Pfarreien ist gross.

Wie ist die Situation der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln?

Auf Lesbos nutzen über tausend Personen einen Wasserhahn. Mehr haben sie nicht zur Verfügung. Die geflüchteten Menschen leben in improvisierten Zeltstädten. Auf Samos etwa wurde eine Infrastruktur für ein paar Hundert Menschen geschaffen. Heute leben dort 7000 Männer, Frauen und Kinder. Hygienemassnahmen oder physische Distanz sind in diesen Lagern unmöglich einzuhalten. Die medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet, und selbst das Recht auf ein Asylgesuch wurde zeitweise ausgesetzt. Mit der Corona-Krise fehlt auch Personal der internationalen Hilfswerke. Die einen haben ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgezogen. Andere kommen aufgrund der Reisebeschränkungen erst gar nicht mehr auf die Inseln.

Wieso engagieren Sie sich bei #evakuierenJETZT?

Solidarität darf nicht an der Schweizer Grenze aufhören. Wir haben in den letzten Wochen gelernt, dass es darum geht, Corona in ganz Europa und auf der ganzen Welt einzudämmen. Und zu dieser Welt gehören auch die geflüchteten Menschen in überfüllten Lagern. Corona zeigt uns gerade sehr deutlich: Die Welt ist eine Welt, und alles hängt miteinander zusammen.

Matthias Hui

Matthias Hui

Der Theologe gehört zu den Mitgründern vom Netzwerk migrationscharta.ch. 2015 gab eine lose Gruppierung evangelisch-reformierter und römisch-katholischer Theologinnen und Theologen die Migrationscharta als ein Grundlagentext für eine neue Migrationspolitik aus biblisch-theologischer Perspektive heraus. Matthias Hui ist zudem bei humanrights.ch Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz und Redaktor bei der Zeitschrift «Neue Wege».