Recherche 29. Januar 2021, von Katharina Kilchenmann

«Speziell die Situation der Kinder ist unhaltbar»

Migration

Für Kinder in Langzeitnothilfe brauche es dringend neue Lösungen, meint der Migrationsexperte.

Wer in einem Schweizer Gefängnis lebt, bekommt drei warme Mahlzeiten am Tag, muss arbeiten und erhält dafür einen kleinen Lohn. Menschen in Langzeitnothilfe haben sechs bis acht Franken für ihr tägliches Essen zur Verfügung und dürfen nicht arbeiten, um etwas dazuzuverdienen. Diesen Vergleich stellt Walter Leiumgruber an, Prä­sident der Eidgenössischen Migrationskommission. Die Nothilfe, wenn sie länger als die vorgesehenen drei Monate dauere, funktioniere nicht, findet er. «Wir haben Menschen, die zehn Jahre im Nothilferegime leben, weil sie nicht in ihre Länder zurückgeschickt werden können.» Ihre Situation, und besonders jene der Kinder, sei unhaltbar. Es brauche dringend eine Lösung.

Kinder in Sippenhaft

Neben dem menschlichen Problem sieht Leimgruber auch ein rechtliches: Nicht die Minderjährigen hätten das Gesetz gebrochen, sondern die Erwachsenen. «Die Kinder werden in Sippenhaftung genommen und dem gleichen Regime unterworfen wie die Eltern», führt Leimgruber aus. Es sei, als ob man das Kind eines Mörders gleich behandelte wie den Mörder selbst. «Ob dieses Vorgehen einer Prüfung durch den Europäischen Menschengerichtshof standhalten würde, ist fraglich.» Klar sei aber: Das Leben der Kinder werde nachhaltig zerstört, obwohl diese sich nichts zu Schulden kommen liessen.

Die Eidgenössische Migrationskommission EKM, die Walter Leimgruber präsidiert, berät den Bund und die Verwaltung in Migrationsfragen. Er sieht es also als seinen Auftrag, über die aktuelle Situation zu informieren und einen Prozess in Gang zu bringen. «Klar braucht es im Asylwesen ­eine gewisse Härte, und die Vorgaben des Bundes, die auf einer Volksabstimmung basieren, müssen durchgesetzt werden.» Doch die Kantone könnten dabei auch Spielraum nutzen.

Nachbesserung nötig

Tatsächlich sind die kantonalen Unterschiede gross, etwa bei der Unterbringung von Familien oder den Ausbildungsmöglichkeiten junger Erwachsener. Im Kanton Bern müssen Jugendliche nach dem Negativentscheid ihre Lehre abbrechen. In der Waadt gibt es für Menschen in Nothilfe einen Kurzlehrgang, wenn sie ausreisewillig sind.

Auf den Kantonen laste viel Verantwortung, sagt Leimgruber, und der Bund interveniere bei unterschiedlichen Umsetzungen der Vorgaben nicht automatisch. Es sei klar, dass es dringend Nachbesserungen brauche. «Tatsache ist, die meisten abgewiesenen Asylsuchenden, die jetzt von Nothilfe leben, bleiben hier.» Und die Kinder brauchten eine Perspektive. «Wenn wir jetzt nicht handeln, produzieren wir kaputte Kinder. Und das darf sich ein zivilisiertes Land wie die Schweiz nicht leisten.»