Am 6. Juli stand Frank Riklin zur Mittagszeit am Rand der Kantonsstrasse, irgendwo zwischen Murgenthal und Thunstetten. «Wo genau, weiss ich auch nicht so recht», sagte er am Telefon «man verliert schnell die Orientierung.» Es war der siebte Tag der jüngsten Aktion der Riklin-Brüder. Mit Sackkarren schoben sie ihr Projekt «Die zehn Gebote Vol. 2» von Zürich nach Bern, wo sie seit dem 9. Juli im Museum für Kommunikation ausgestellt werden.
Eine Tonne Stein für eine neue Gesellschaft
Die Riklin-Brüder verschoben zehn Steintafeln mit neuen zehn Geboten zu Fuss von Zürich nach Bern. Damit suchen sie Aufmerksamkeit – um die Welt zu verändern, wie sie erklären.
Das Projekt entstand vor rund einem Jahr, als Frank und Patrik Riklin vor dem Kloster St. Gallen während zehn Tagen ihre zehn Gebote in Steintafeln meisselten. Danach wurden sie im Kanal des Zürcher Schanzengrabens versenkt. Als der Kanton Zürich die Steintafeln daraus entfernen liess, suchten die Konzeptkünstler öffentlich ein Asyl für die Steinplatten. Aus 25 Bewerbungen wählte eine Jury schliesslich das Museum für Kommunikation in Bern aus.
Sichtbarkeit statt Sicherheit
Eine Tonne Sandstein auf Sackkarren durchs Land schieben, das geht einem nach sechs Tagen doch an die Substanz? Nein, meint Frank Riklin, er sei «keineswegs erschöpft». Im Gegenteil: Die Reise mit den insgesamt 110 freiwilligen Gebotschiebenden, die etappenweise beim Transport halfen, habe ungemein belebt. Es sei eine unübliche Gemeinschaft von Menschen gewesen, die aus unterschiedlichen Gründen bei der Aktion mitmachten. «Es ist uns aber wichtig, den Leuten nicht dafür zu danken, denn sie sollen mitmachen, weil sie einen Sinn darin sehen und einen Nutzen für sich daraus ziehen», erklärt Riklin.
Durch den Transport der Steintafeln habe zudem eine physische Auseinandersetzung mit dem Werk stattgefunden. «Dieser Aspekt findet sich immer wieder in unserer Kunst», sagt Riklin. Dadurch, so hoffen die Künstler, erzeuge ihre Arbeit eine grössere Wirkung bei den Leuten.
Gebote sollen die Welt verändern
Auf eine grosse Wirkung zielt die Aktion denn auch ab. Die Riklin-Brüder wollen nichts Geringeres als die Gesellschaft verändern. Ihre Gebote sollen ein «sinnhafter Kompass» für die Menschen sein. Im Unterschied zu den zehn Geboten aus dem Alten Testament, die vor allem die Beziehung der Menschen zu Gott und zueinander regelten, richten sich die Riklinschen Gebote hauptsächlich an Einzelpersonen. Sind sie also lediglich eine Anleitung zur Selbstoptimierung? «Man kann das natürlich so lesen, das wäre aber nicht in unserem Sinn», antwortet Frank Riklin. Er sei fest davon überzeugt, dass die Gebote gesellschaftlich etwas bewirken können: «Wer sich auf sie einlässt, kann nicht anders, als Teil des Wandels zu werden.»
Überdies sollen die «zehn Gebote Vol. 2» jene aus der Bibel auch nicht ablösen: «Sie sind als Ergänzung zu verstehen», erklärt Riklin. Darauf deute auch der Name hin. Volume 2 – also Band 2, setze ja voraus, dass es einen ersten Band gibt. Diesen könne man kritisch sehen, doch um zwischenmenschliche Beziehungen zu regeln, sei er immer noch wertvoll.
So lauten «Die zehn Gebote Vol. 2»
Gebot I
Believe in the urgency of your thoughts.
Glaube an die Dringlichkeit deiner Gedanken.
Gebot II
Trust insanity and question the conventional.
Vertrau dem Verrückten und hinterfrage das Konventionelle.
Gebot III
Break in so others can break out.
Breche ein, damit andere ausbrechen können.
Gebot IV
Venture into new territories and surprise yourself.
Wage dich in neue Gebiete vor und überrasche dich selbst.
Gebot V
Create new realities and make them happen.
Schaffe neue Realitäten; komm vom Denken ins Handeln.
Gebot VI
Be convinced and you will not need courage.
Sei überzeugt, und du brauchst keinen Mut mehr.
Gebot VII
Endure criticism as it drives discourse.
Halte Kritik aus; sie ist Motor und Treiber des Diskurses.
Gebot VIII
Accept antagonism as it is a sign that something new is happening.
Akzeptiere Gegenspieler; sie sind das Indiz dafür, dass etwas Neues geschieht.
Gebot IX
Do not look for customers find accomplices.
Suche nicht nach Kunden, finde Komplizen.
Gebot X
Keep processes going even if they seem to end.
Setze Prozesse dort fort, wo sie vermeintlich enden.
Irritierte Blicke
Wie nachhaltig die Aktion etwas verändern wird, lässt sich noch nicht sagen. Zu reden und zu denken gibt sie allemal. Von den Balkonen und Trottoirs wurden den Steineschiebenden immer wieder neugierige und auch irritierte Blicke zugeworfen. Wenn die Zuschauenden die Aktion erklärt erhielten und sich damit auseinandersetzen, hätten die Leute den Sinn darin aber meist gesehen, sagt Frank Rikli.
Denkwürdig findet Riklin die Begegnung mit einem Filialleiter eines Grossverteilers: Nachdem die ganze Gruppe samt Steintafeln ihren Proviant einkaufen wollte, wurden sie gebeten, den Laden zu verlassen. Auch nachdem Frank Riklin den Sinn hinter der Aktion erklärt hatte, wollte der Filialleiter die Steine draussen haben. «Betrachten Sie sie als Gepäckstücke», habe Riklin dann gesagt – und der Filialleiter geschwiegen.