Schwerpunkt 25. Februar 2022, von Hans Herrmann

Zeit, um den Arbeitstag noch einmal zu überdenken

Heimweg

Liselotte Stricker Meuli legt ihren Heimweg durch die Stadt Bern mit dem Velo zurück, fast immer. Auf dem Rad findet sie zu sich selbst – und oft Antworten auf ihre Fragen.

Ein warmwindiger und bewölkter Nachmittag im frühen Februar. Auf der rege befahrenen Strasse am Viktoriaplatz in Bern nähert sich eine Frau auf dem Fahrrad. Warme Kleidung, Rucksack, Helm, robustes Velo: Liselotte Stricker Meuli ist eine routinierte Radfahrerin. «Ich bin in der Stadt praktisch immer mit dem Velo unterwegs», sagt sie.

Jetzt ist sie auf dem Heimweg. Ihr Arbeitsplatz, das Berufsberatungs- und Informationszentrum (BIZ), befindet sich in der hinteren Länggasse. Bis sie zu Hause in der Baumgartensiedlung ist, dauert es im Schnitt 20 Minuten. Schneller ginge es direkt via Lorrainebrücke, aber sie zieht den Umweg über die Kornhausbrücke vor: Dieser sei viel schöner mit dem herrlichen Blick auf die Altstadt und die Alpen, dazu auch merklich velofreundlicher und daher stressfreier.

Liselotte Stricker Meuli, 63

Liselotte Stricker Meuli, 63

Die Berufs- und Laufbahnberaterin lebt in Bern. Sie ist verheiratet und Mutter einer erwachsenen Tochter.

Liselotte Stricker Meuli legt ihren Heimweg jeweils sehr bewusst zurück. Sie orientiere sich dabei an einem Bekannten aus den USA, der einmal den Begriff «transition time» eingebracht habe, sprich: Zeit des Übergangs. «Für mich bedeutet der Weg nach Hause tatsächlich eine Art Übergangsritual; ich bin nicht mehr, wo ich gewesen bin – und noch nicht dort, wo ich hinwill», erklärt sie. «Je sorgfältiger ich abnable, den Arbeitstag hinter mir las­se, bewusst verabschiede, was ge­we­sen ist, was mich bewegt, beschäf­tigt oder sogar belastet hat, desto freier komme ich am Ziel an.»

Nahe bei den Menschen

Das Velo erlebt sie als ideales Fortbewegungsmittel, um sich auf dem Heimweg von den teilweise schwierigen Situationen zu lösen, mit denen sie sich bei der Arbeit auseinandersetzt. «Mein Beruf ist sehr nahe bei den Menschen, ihren Veränderungswünschen, aber auch Enttäuschungen und Tiefschlägen», sagt sie. «Radelnd komme ich in Fluss, fra­ge mich, was gut gelungen ist und was anders hätte laufen müssen – und auch, womit ich mir nun Gutes tun könnte.»

Ob besagter Vorgang des «Abnabelns» auch in einem öffentlichen Verkehrsmittel funktionieren würde? «Sicher nicht so, wie es unter freiem Himmel auf dem Fahrrad gelingt», antwortet sie. Auf dem Velo sei sie für sich allein, könne das Tempo selber bestimmen und je nach Wunsch und Bedürfnis auch noch eine kleine Zusatzschlaufe oder einen Stopp einlegen. Wind und Wetter können ihr nichts anhaben: «Bei starkem Wind muss ich mich durch­beissen, noch etwas härter in die Pe­dale treten, dabei komme ich sogar noch schneller zu mir selbst zurück», erklärt sie.

Nun lichten sich die Häuserzeilen, rechterhand kommt ein Park in Sicht: der Rosengarten. Hier lässt Liselotte Stricker Meuli den Tag manchmal besonders gemütlich aus­klingen, an milden Abenden mit ihrem Mann: bei einem Apéro auf der öffentlichen Terrasse mit Blick über die Altstadt