Schwerpunkt 25. Februar 2022, von Rita Gianelli

Das tägliche Abenteuer auf Schusters Rappen

Heimweg

Am liebsten macht er sich mit seinem Bruder Felix auf den Heimweg. Und wenn Markus Widmer allein unterwegs ist, vergisst er oft die Zeit. Denn der Weg steckt voller Überraschungen.

Die Kirchenglocken läuten. Kinder rennen an Markus Widmer vorbei zu ihren wartenden Müttern. Markus geht entlang des Dorfbachs in Richtung Bleiche, wo er sich von seinem Freund verabschiedet, der sein Zuhause nun bereits erreicht hat. Er verlässt die Strasse und folgt weiter dem Bach, direkt in den noch kahlen Wald. «Das ist spannender», sagt er, «und eine Abkürzung.»

Wenn Markus Widmer der Hunger plagt, schafft er seinen Heimweg in einer halben Stunde. Meist ist er aber eine Stunde nach Schulschluss um halb zwölf noch unterwegs. Ein­mal, beginnt er über den Waldboden stapfend zu erzählen, habe er beobachten können, wie ein Helikopter Gerätschaften und Seilbahnteile der Niederurnen-Morgenholz-Seilbahn transportiert habe. Der Heli habe bei der Revision der Luftseilbahn geholfen, sagt er und bleibt stehen. Mit seinen übergrossen Handschuhen klaubt er einen Zweig aus dem Gehölz. «Da hinten.» Er deutet mit seinem Zweig über den Bach und schiebt sich die Mütze aus dem Gesicht. «Siehst du das gelbe Haus? Das ist das Maschinenhaus. Wenn sie drinnen einschalten, kommt unten Wasser raus.»

Markus Widmer, 10

Er wohnt auf einem Bauernhof bei Niederurnen GL. Die Sommerferien ver­bringt er meist auf der Alp.

Markus kniet jetzt gefährlich nahe am hohen Bachufer. «Da unten gibt es eine Entenschule.» Für Markus sind die Entlein die Schüler, die Entenmutter ist die Lehrerin. Dann marschiert er weiter, hoch über den terrassierten Waldweg, vorbei an einer in den Boden gesteckten Hinweistafel mit der Aufschrift «Bitte lass mich stehen, so kann sich beim Vorübergehen mancher an mir erfreuen». Markus glaubt, dass da einmal ein Rosenstock stand.

Pause über dem Dorf

Der Bach liegt hinter ihm, jetzt ist es still im Wald. Am Himmel kreist ein Rotmilan. Manchmal findet Markus eine Feder. Das letzte Drittel des We­ges geht er nun die Strasse entlang. «Hoi!», ruft er talwärts einem älteren Ehepaar zu. Es winkt zurück. Am Strassenrand, in der letzten Kur­ve des Heimwegs, stehen zwei Sitzbänke. Hier setzt sich Markus zuweilen hin und lässt den Blick über das Dorf gleiten. Mit seinem Hund Rambo ist er auch schon hierherspaziert. «Mein Lieblingsplatz. Hier hast du die beste Aussicht.»

Er zeigt auf das Altersheim, die Autobahn, den Dorfladen, die Kirche und den Walensee, der durch den Dunst schwach zu erkennen ist. Links liegt das Schlössli. Früher nahm er oft die Abkürzung über die Schlössliwiese. «Das geht schnel­ler als durch den Wald.» Aber seit der Wolf dort gesichtet wurde, hat es ihm die Mutter verboten.

Es ist halb eins, als Markus die Treppe vor seinem Haus hochsteigt. Seine Mittagspause ist kurz. In einer halben Stunde muss er wieder auf den Weg. «Runter gehts schneller», sagt er und zieht die Stiefel aus. Wenn er Glück hat, nimmt ihn auf dem Heimweg am Abend jemand im Auto mit. Wenn nicht, warten neue Abenteuer auf ihn.