Schwerpunkt 25. Februar 2022, von Nicola Mohler

Ein Spaziergang durch das eigene Leben

Heimweg

Liseli Greber geht am Rollator. Wenn sie nach dem Einkaufen nach Hause spaziert, trifft sie Dorfbewohner und erinnert sich an ihre Kindheit oder verstorbene Verwandte.

Liseli Grebers 15-minütiger Heimweg vom Einkaufen fühlt sich an wie ein Spaziergang durch ihr Leben. Zu jedem Gebäude in Wimmis weiss sie eine Geschichte zu erzählen. Denn die 87-Jährige kennt das Dorf seit ihrer Kindheit.

Die zweifache Grossmutter ist seit elf Jahren auf den Rollator angewiesen. Zweimal wöchentlich geht sie mit ihrem Sohn einkaufen, sofern die Strasse nicht vereist ist. Auf dem rund 500 Meter langen Heimweg vom Coop ist gleich der erste Abschnitt der gefährlichste: Liseli Greber muss mit dem Rollator die leicht geneigte Hauptstrasse überqueren. Auf der anderen Strassenseite befindet sich eine Bäckerei. Hier geht sie gern einen Kaffee trinken, wenn sie jemanden auf dem Heimweg antrifft, der Zeit für einen kurzen Schwatz hat.

Blick aufs Elternhaus

Während Greber gekonnt Schlaglöchern und Pollern ausweicht, hat sie einen Blick für die kleinen Dinge. Hier ein Käfer. Dort die schönen Blumen beim Haus neben der Bank. «Viel hat sich im Dorf verändert», sagt Greber und bleibt stehen. «Junge Menschen ziehen in die Häuser von verstorbenen Bewohnerinnen. Sie haben keine Zeit mehr für Blumen, die das Haus schmücken.»

Liseli Greber, 87

Liseli Greber, 87

Die zweifache Grossmutter wuchs in Wimmis auf. Elf Mal ist sie umgezogen. Heute lebt sie wieder in Wimmis.

Die Veränderungen im Dorf sieht Greber auch an der starken Bautätigkeit. Gegenüber der neuen Bank steht ein Baukran, daneben ein halb fertiges Haus mit Gerüst. Ein Plastik­banner wirbt für freie Eigentums­wohnungen. «Im Dorf gibt es so viele Neubauten, dass selbst ich als Einheimische Wimmis kaum noch erkenne», sagt Greber.

Freut sich aufs Ausruhen

In einer leichten Rechtskurve befindet sich auf der anderen Strassenseite das Restaurant Kreuz und gleich dahinter ein Haus mit grünen Fensterläden. In diesem Haus ist Liseli Greber aufgewachsen. Gern erinnert sie sich an diese Zeiten, auch wenn sie viel mit anpacken muss­te. Ihr Vater arbeitete in der eidgenössischen Pulverfabrik im Dorf.

Zudem hatte die Fa­milie einen kleinen Bauernhof. «Wenn wir unsere Stangenbohnen von 111 Stauden rüsteten, half uns jeweils die ganze Nachbarschaft.» Nun schaut Greber auf die andere Strassenseite und sagt unvermittelt: «Das Coronavirus hat uns Menschen irgendwie voneinander entfremdet.»

Auf der Hauptstrasse kreuzt die Seniorin Passantinnen und Passanten. Man grüsst sich. Dann biegt Liseli Greber rechts ins Quartier ein. Der Fussgängerweg windet sich um neuere und ältere Wohnhäuser mit ihren Gärten. Auf einer Matte stehen Apfelbäume. Dahinter erhebt sich majestätisch die Pyramide des Niesens.

Auf dem Heimweg freut sich Greber darauf, in ihrer Wohnung auszuruhen. Wenn sie diese betritt, folgt sie als Erstes einer kleinen Gewohnheit: Sie steckt von innen den Schlüssel ins Schloss der Wohnungs­tür.