«Der Heimweg hat etwas Anarchistisches»

Heimweg

Der Theologe und Erziehungswissenschaftler Fulbert Steffensky kennt verschiedene Aspekte des Heimwegs. Als Kind zog er ihn in die Länge – und das möchte er mit dem zu Gott auch.

Was kommt Ihnen beim Begriff «Heim­weg» in den Sinn?

Fulbert Steffensky: «Heimweg» weckt ein warmes Gefühl. Heim, Heimat: ein Ort, wo man sich nicht beweisen muss. Wo man mit Freunden, der Familie zusammen ist. Der Heimweg ist der schönste Weg.

Trägt dieser besondere Weg auch die Sehnsucht in sich?

Ja, denn man ist noch nicht zu Hause, man hat noch einen Weg vor sich. Der Heimweg ist ein sehnsüchtiger Weg. Heinrich Böll spricht vom Menschen, der «in seiner Sehnsucht ein Gottesbeweis ist». Alle wüssten wir, sagt der Schriftsteller, dass wir hier auf Erden nicht ganz zu Hause sind, «dass wir also noch woanders hingehören und von woanders her­kom­men». Heimweg hat für mich mit Heimweh zu tun.

Gibt es besondere Heimwege, an die Sie sich erinnern?

Ich habe eine starke Erinnerung an einen Heimweg in meiner frühesten Kindheit. 1939 wurde unser Dorf im Saarland kurz vor dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich evaku­iert. Als Katholiken lebten wir plötz­lich in Ostdeutschland unter fremden Reformierten mit einer anderen Sprache, anderen Gewohnheiten. Nach einem Jahr konnten wir zurück. Für den Heimweg stand ein Zug bereit, darauf ein weisses Laken mit der Aufschrift «Nix wie hem». Die wundervol­le Heimat jedoch, die wir uns in der Fremde ausgemalt hat­ten, gab es nicht. Es war hier alles wie zuvor, nicht aufregend. Heimaten, die man wirklich erreicht, haben viel von ihrem Glanz verloren.

Fulbert Steffensky, 89

Fulbert Steffensky, 89

Er hat katholische und evangelische Theologie studiert. 1969 konvertierte Fulbert Steffensky zum Luthertum und heiratete die evange­lische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003). Mit seiner heutigen Frau, der römisch-ka­tho­lischen Theologin Li Hangartner, lebt der vielfache Buchautor in Luzern.

Und wie haben Sie als Kind Ihren Schulweg erlebt?

Den zog ich in die Länge, um die Arbeit aufzuschieben. Damals war es ja selbstverständlich, dass Kinder mit anpacken mussten, Feuerholz spalteten oder die Ziegen auf die Wie­se brachten. Gleichzeitig war der Heimweg aus der Schule immer auch ein Weg des Ausprobierens, des Experiments. Hier habe ich die erste Zigarette geraucht, wir haben uns geprügelt, das erste Mädchen ge­küsst. Dieser Heimweg hatte etwas Anarchistisches. Man war frei, es gab keine Kontrolle, weder von der Schule noch vom Elternhaus.

Heute werden Kinder oft von den Eltern in der Schule abgeholt.

Davon halte ich nichts. In Deutschland gibt es inzwischen Schulen, die verbieten, die Kinder mit dem Auto zu chauffieren. Das ist richtig so! Kin­der werden hierzulande oft fürsorglich entmündigt.

Wie meinen Sie das?

Kinder verwahrlosen, wenn man sich nicht um sie kümmert. Aber wenn wir einem Kind alles abnehmen, die Fremde nicht gönnen, lernt es die Welt nicht kennen, auch ihre Härte nicht. Dieser Überversorgung von Kindern, auch in materieller Hin­sicht, steht die krasse Unterversorgung anderswo auf der Welt gegenüber: Kindern fehlt es an Essen und Trinken, an Freiheit und Lebenssicherheit. Auch in unseren Brei­ten haben nicht alle Kinder das Notwendigste. Für die mütterlichen Menschen sind alle Kinder wie die eigenen. Fremde Kinder gibt es für sie nicht.

Von Heimwegen wird auch in der Bibel berichtet. Welche Geschichte kommt Ihnen in diesem Zu­sammenhang spontan in den Sinn?

Jakob etwa, der nach Jahren in der Fremde nach Hause zurückkehrt. Sein Heimweg führt in eine ungewisse Heimat. Erwartet ihn die Rache seines Bruders Esau, den er betrogen hat und vor dessen Zorn er ge­flohen ist? Aber es kommt anders; die beiden Brüder fallen sich in die Arme. Eine schöne Geschichte über Versöhnung.

Erzählt auch die Exodusgeschichte eine Art Heimweg?

Der Weg der Israeliten aus Ägypten ins Heilige Land ist eher ein Hinweg. Denn das Volk ist noch nicht da, wo es hingehört. Die Erzählungen der Bibel handeln fast alle von Herkunft und Zukunft – wo komme ich her und wo gehe ich hin?

Meinen Schulweg zog ich jeweils in die Länge, um die Arbeit zu Hause aufzuschieben.

Als Heimweg wird auch das Sterben bezeichnet. Können Sie mit dieser Vorstellung etwas anfangen?

Die religiöse Tradition hat ja nicht so sehr das Individuum im Blick. Es stehen weniger die einzelne Seele und ihr späteres Schicksal im Zentrum. Es geht um das Volk, um das Reich Gottes, wo das Recht Gottes herrscht und Unrecht ein Ende hat; um das Land, in dem der Löwe und das Lamm friedlich nebeneinander weiden. Es geht um die Stadt, in der niemand mehr weinen muss und in der alle ihr Lachen gefunden haben. Ja, der Weg dahin ist ein Heimweg.

Und wie stellen Sie sich Ihren persönlichen Heimweg zu Gott vor?

Ich möchte mir noch etwas Zeit neh­men mit meinem Heimweg, ich lebe gern. Der Tod ist ein grimmiger Geselle, eine der Unverschämtheiten, die dem Leben an­getan werden. Aber was bleibt einem anderes übrig, man muss ihn adoptieren!

Sie denken nicht allzu oft über das Sterben nach?

Ich weiss nicht, wann es so weit sein wird. Dass ich nicht der Meister mei­­nes Sterbens bin, darüber bin ich froh. Das gibt mir Freiheit und eine gewisse Heiterkeit, in der ich vielleicht sogar den Tod auslachen kann. Es muss mir nichts ganz gelingen, nicht einmal mein Sterben.

Was kommt nach dem Tod?

Was Gott nach dem Tod mit mir vor­hat, ist mir eigentlich wurst. Aber die biblische Vorstellung der Stadt, wo es kein Unrecht mehr gibt, lässt mich nicht los. Täglich lese ich in den Zeitungen von Kindern, die im Meer ertrinken, Frauen, die vergewaltigt, Männern, die gequält werden. All diese Menschen, denen die Zukunft genommen wird und denen alle Himmel verschlossen zu sein scheinen. Niemand wird mich jemals davon abhalten zu glauben, dass die Armen seliggepriesen und die Tyrannen dereinst vom Thron gestürzt werden.

Glauben allem zum Trotz?

Ja, zum Trotz gegen die Argumente, die die Hoffnungslosigkeit aufzuweisen hat. Wir werden nach Hause kommen. Wir werden das Land finden, in dem alle ihre Freiheit haben. Man kann diese Hoffnung nur in Bildern, in Liedern und in Gedichten sagen und singen. Die Sprache der Hoffnung ist die Poesie, nicht die Dogmatik.