Haben Sie einen Lieblingscomic?
Jürgen Mohn: Mein Favorit ist von Marc-Antoine Mathieu und heisst «Gott höchstpersönlich». Dieser Comic ist nicht nur künstlerisch herausragend. Auch inhaltlich regt er enorm zum Denken an. Der französische Autor geht der Frage nach, was passieren würde, wenn in unserer durchmedialisierten Welt Gott erschiene. Der Künstler stellt dies mit grosser Sachkenntnis dar. Man könnte meinen, ein Theologe sei Autor dieses Comics gewesen.
Was fasziniert Sie an Comics?
Ich bin mit Asterix sowie mit Tim und Struppi aufgewachsen. Später lernte ich durch meinen Schwager dann die Welt der französischen Erwachsenen-Comics kennen, die sogenannten Bandes Dessinées und die Graphic Novels. An Comics fasziniert mich, dass Bild und Text unterschiedlich genutzt werden können. Oder dass ich als Leser von jedem Einzelbild zum nächsten, den sogenannten Panels, Gedankenarbeit leisten muss. Aber nicht nur die einzelnen Panels, auch die Seite als Ganzes hat einen ästhetischen Effekt. Zudem lernen wir viel über unsere Gesellschaft, wenn wir Comics dahingehend betrachten, wie sie über Religion sprechen.
Inwiefern?
Der Status von Religion ist heute diversifizierter, individueller, spielerischer und fundamentaler zugleich. Jedes Individuum stellt sich seine eigene Spiritualität zusammen. Die Comic-Kultur ist zu einer religionsgeschichtlichen Nische geworden. In Comics werden Religionen neu erfunden, ausprobiert und imaginär getestet. Es gibt eine ganze Generation von Autoren, die in ihren Werken eigene Formen von Göttern und Spiritualität entwickelt haben. Dabei geht es um Ordnung und Konflikt, Sinnstiftung und Krise. Religion ist aber auch ein guter Verkaufsschlager. Sie wird mit Geheimnis, Kraft und Mysterium in Verbindung gebracht.
Aus Comcis entstehen neue Religionsgemeinschaften?
Ja, es gibt sogenannte «fiction-based religions». Sie nutzen fiktive Texte als Grundlage für ihre Religion. In England etwa haben sich die Jedi-Ritter aus den Star-Wars-Filmen als Religionsgemeinschaft eintragen lassen. Erfundene Religionen wie die des Spaghetti-Monsters machen sich auch über die Religion lustig und wollen aufzeigen, dass es Rationalität nicht gibt, sondern wir in absurden Zeiten leben.
Was ist an Eva Müllers Comic zu Ostern typisch für aktuelle Comics?
Typisch etwa sind die Anleihen an die Kunstgeschichte: Eva Müller zeichnet auf Seite 6 in einem grossen Einzelbild das Abendmahl von Leonardo Da Vinci nach. Direkt unter Jesus am Tisch setzt sie dann ein Panel mit dem leeren Grab. Das verleiht Gewicht. Auch das Symbol des Eis, das für die Auferstehung steht, ist gut eingearbeitet. In wenigen Bildern und kurzen Texten erzählt Eva Müller die Ostergeschichte und wählt ein Ende, das zum Nachdenken anregt. Ein guter Comic ist intellektuell anspruchsvoll.
War Religion in Comics schon immer ein Thema?
Nein. Erst vor etwa 40 Jahren erhielten in amerikanischen Comics die Superhelden wie Superman, Batman oder Captain America religiöse Züge. Bei den Zuschreibungen dominierte über viele Jahre hinweg das protestantische oder evangelikale Gedankengut. Interessanterweise waren die Schöpfer der Figuren damals mehrheitlich jüdischer Herkunft.
Was hat sich verändert?
Die institutionalisierten Interpretationsprozesse von Religion haben sich verlagert. Nicht mehr die Kirche sagt, was Religion zu sein hat. Das Individuum entscheidet für sich selbst. Das ist auf die wachsende Vielfalt der Glaubensbewegungen, die Auflösung von Familienstrukturen, die Medialisierung von Religion und den höheren Bildungsgrad zurückzuführen. In Zeiten, in denen sich alte Ordnungen auflösen, bieten Comics – wie auch Film, Musik, Literatur – alternative Orientierungsmöglichkeiten und Werte. Religion kann in der Populärkultur frei behandelt werden.
Nie gab es so viele Comics mit religiösen Inhalten wie heute. Warum?
Religiöse Comics haben einen ökonomischen und einen unterhaltenden Faktor. Die Religion bietet den Menschen Spielraum für Fantasie. Und der freie Umgang mit Religion in Comics passt in den Markt von Angeboten der Sinnsuche.
Gilt das auch für die Schweiz?
Nehmen wir die Stadt Basel als Beispiel: Rund 15 Prozent der Bevölkerung bezeichnen sich als Reformierte, etwas weniger als Katholiken und eine grosse Mehrheit hat keine Konfession. Das heisst aber nicht, dass sie areligiös sind. Sie lassen sich einfach nicht mehr eindeutig einer Religion zuordnen. Sie suchen nach Sinn und finden Antworten in anderen Religionen. Früher nannte man das Synkretismus: sich mit Ideen und Philosophien ein eigenes Weltbild zu schaffen.
Im 19. Jahrhundert etwa suchte man nach einer Einheitsreligion.
Genau. Dieses Phänomen jedoch war den Intellektuellen vorbehalten, sprich einer Minderheit. Heute ist das anders: Jedem Menschen ist dieses Zusammenfügen von Elementen aus verschiedenen Religionen und Weltanschauungen möglich. Eine wichtige Rolle spielt das Internet als Quelle für Information.
Können Comics eine Chance für die Kirchen sein?
Absolut. Die Botschaft der Kirche und des Christentums lebt in Comics weiter, teilweise wird sie transformiert. Die Superhelden in den amerikanischen Comics haben die gleichen Botschaften, wie wir sie in der Bibel finden: Es geht um den Kampf gegen das Böse oder den Erlöser, der die Ordnung in der Gesellschaft wiederherstellt. Denken Sie an Superman: Er rettet die Welt, stirbt und kommt zurück. Sein Geburtsname lautet Kal-El. Das ist Hebräisch und heisst die Stimme Gottes. Vielleicht könnten die Kirchen den christlichen Kontext der Comics aufzeigen und auf Anknüpfungspunkte zur Bibel hinweisen.