Schwerpunkt 29. Dezember 2020, von Marius Schären

«Ich wollte vergeben, das war ein Anfang»

Vergebung

Missbrauch ist etwas vom Schlimmsten, das ein Mensch erleiden kann. Judith T. erarbeitete sich nach langer Zeit Ver­gebung. Sich stellen sei der erste Schritt, sagt die Pfarrerin.

Trotz allem ist sie noch da. Mitten in Zofingen, wo sie aufgewachsen ist und Ungeheuerliches erlebte. Mitten im Leben, das sie mehrmals fast verloren hätte. Judith T. (49) betont eindringlich am Anfang des Gesprächs, sie wolle sich nicht wichtig machen. «Ich will auf das Thema aufmerksam machen.» Deshalb stehe sie auch mit ihrem Gesicht hin.

Judith T. durchlebte eine Hölle. Darüber will sie nicht viele Worte verlieren. Ihr Vater hatte sie sexu­ell missbraucht – «seit ich denken kann». Sie fühlte sich zu Hause nicht verstanden. Sie rebellierte, grenzte sich ab und wurde drogenabhängig. Mehrmals starb sie beinahe an einer Überdosis. Sie wurde vergewaltigt. Als 17-Jährige kam sie in Untersuchungshaft.

Danach verliebte sie sich, brach­te zwei Kinder zur Welt und erleb­te schöne Zeiten – bis sie auch noch häusliche Gewalt erlitt und einzig die Kinder sie noch im Leben hielten. 2004 lernte sie durch eine Kollegin einen methodistischen Pfarrer kennen und zog aus. Judith T. war damals 33 Jahre alt. «Ich kam endlich an einen Ort, wo ich mich wohlfühlte», sagt sie. Gott sei in ihr Leben zurückgekommen, und sie habe entschieden: «Ich will vergeben. Das war ein Anfang.» Dann folg­te ein langer Weg.

«Eine riesige Wut»

In diesem Moment habe sie in einer «mega Krise» gesteckt. Wie schon mehrmals zuvor. Krisen, in denen sie immer gescheitert war mit ihren Versuchen, das Geschehene zu verarbeiten. «Es war eine riesige Wut in mir. Ich war auf die ganze Gesellschaft hässig. Durch die negativen Erlebnisse hatte ich jeglichen Respekt verloren.» Doch nun wollte sie Versöhnung finden, denn anders wür­de sie nicht frei werden, davon war sie überzeugt.

Judith T. sitzt am Stubentisch in ihrer Wohnung mitten im Zofinger Altstädtchen. Dass sie mit all dem Schweren in ihrem Leben nach wie vor hier lebt und gerne hier ist, erstaunt zuerst. Aber im Gespräch wird schon bald klar: Es stimmt so. Hier befindet sich ihr Zuhause. Hier hat sie ihr Leben aufgeräumt und ist wieder angekommen. Sie erzählt klar und strukturiert, ohne jemals eingeengt oder gehemmt zu wirken. Vielmehr eben: frei.

Zuerst sich stellen

Stark half ihr dabei der Glaube. «Nachdem ich Gott in mein Leben gelassen hatte, wurde mir bewusst, dass es einen Weg gibt, den ich beschreiten will», sagt Judith T., die seit vier Jahren Pfarrerin ist. Der erste Schritt war damit getan: nicht mehr wegzurennen, sondern sich zu stellen. «Das macht etwas mit der Psyche. Es kam ein sehr starker Prozess in Gang, viele Erinnerungen kamen auf, oftmals konnte ich nicht schlafen.»

Intenstiv arbeitete Judith T. mit einer Psychologin, wöchentlich ging sie zu ihr. Im Weiteren traf sie einen methodistischen Pfarrer. Sie sagt: «Zudem brachte ich meine Gedanken immer wieder Christus vor.» Bei diesem Schritt zur Vergebung müssten vor allem die Gefühle raus, sagt Judith T. Zuerst sei sie während eines ganzes Jahres wütend gewesen. Doch: «Das durfte sein, und es durfte raus. Die ganze Wut, Ohnmacht, Verzweiflung und Trauer, ich habe ein ganzes Meer geweint. Und es waren Menschen da, die das aushielten.» Dies sei enorm wichtig gewesen, sagt sie. Und betont, es sei gerade auch im christlichen Kontext wichtig zu wissen: «Du darfst hässig sein! Und du darfst das zum Ausdruck bringen.» Man müsse nicht immer milde sein. Erst dadurch kon­n­te sie weitergehen.

Mit dem Ablegen von Emotionen und Erinnerungen veränderte sich ihre Gefühlslage. Die Pfarrerin hat ein leichtes Lächeln im Gesicht, als sie sagt: «Es war, wie ein Fenster zu öffnen, verschnaufen zu können.» Das machte es ihr möglich, den Vater nicht mehr nur als Monster zu sehen, sondern auch als Mensch. «Bis heu­te habe ich ein gespaltenes Bild von ihm. Mein Vater hat auch viel Gutes getan. Das ist das unglaublich Schwe­­­­re daran.»

Über ihr kreiste ein Milan

Den Tod ihres Vaters 2016 – im Jahr, als sie ihr Theologiestudium abschloss – empfand Judith T. als Befreiung. «Und ich bin überzeugt, dass auch er jetzt befreit ist», sagt sie. Er habe wohl die noch traurigere Geschichte mit Misshandlung erlebt als sie. Das wollte sie annehmen können – nicht, um sein Verhalten zu erklären, sondern schlicht um zu sehen, was war. Sie nahm seine Asche heim, und am Tag der Beerdigung kreiste oft ein Milan über ihr. «Dieses Bild ist stark in mir: Jetzt war mein Vater frei, jetzt war ich selbst frei. Es war der Moment totaler Versöhnung. Jetzt war alles in Christi Händen.»

Judith T. hält kurz inne, betrachtet am Stubentisch die Kaffeetasse in ihrer Hand. Dann fährt sie fort: «Vergebung und Versöhnung bedeu­tet nicht: Wir umarmen uns, und alles ist wieder gut. Es bedeutet vor allem, sich selbst zu stellen, weder zu verdrängen noch zu vergessen.» Dann werde einem ein neues Leben geschenkt. Verstehen werde sie ihren Vater nie, sagt sie. Doch sie habe jetzt Mittel, mit Schwierigem umzugehen. Nach fünf Jahren harter Arbeit könne sie jetzt ihr geistiges Schränkchen aufmachen, und dann wisse sie, welches Werkzeug ihr am besten helfe.

«Es gibt Gegenmittel»

Judith T. hat dann Selbsthilfegruppen gegründet und sich mit ande­ren Frauen auszutauschen begon­nen. So habe sie schliesslich zulassen
können, dass Christus sie herausführte aus dem Ganzen. Sie gelangte zur Überzeugung: «Es kommt etwas Gutes.»

Das kann sie heute Frauen weitergeben, die Ähnliches erlebt haben. Judith T. begleitet sie ehrenamtlich als Seelsorgerin. Sie habe viel Verständnis, erklärt die Pfarrerin, könne sich gut einfühlen und wisse, was man tun könne in solch verfahrenen Situationen. Zum Thema Missbrauch hält Judith T. fest: «Es kommt vor, und es gibt Gegenmittel.» Sich diesen Umstand bewusst zu machen, sei enorm wichtig. Sie könne deshalb jetzt «ein ganz normales Leben» führen.

Zurück im Beruf des Vaters

Drei Jahre arbeitete sie als Pfarrerin bei der Evangelisch-methodistischen Kirche in Gerlafingen, bis die Stelle nicht mehr finanziert werden konnte. Jetzt ist sie wieder in der Pflege tätig, in einem Wohnheim für kognitiv beeinträchtigte Menschen. Vor dem Berufsfeld ihres Vaters sei sie lange Zeit weggerannt, erzählt Judith T. «Jetzt bin ich wieder drin.» Sie merke, dass sie auf diesem Gebiet Begabungen habe und das geerbte Gute von ihrem Vater weitergeben könne. «Das fühlt sich an wie heimkommen.»

Sie sei eine optimistische Person, beschreibt sich Judith T. mit einem Lachen. «Ich habe mich mit meiner Geschichte loslassen können, und jetzt blicke ich dankbar zu Gott – in die Zukunft.»