Schwerpunkt 29. Dezember 2020, von Anouk Holthuizen

«Ich möchte dieses Bild von mir ablegen»

Vergebung

Der 24-jährige Peter* verbrachte mehrere Jahre in Ge­fängnissen. Eine Tat liegt wie ein Schatten auf der Seele. Er möchte um Vergebung bitten – doch vor der Begegnung hat er Angst.

Jeden Tag denkt Peter* daran. An jene Minuten im August 2015, als er den Mann von hinten packte und ihm sagte: «Ich habe ein Messer. Bleiben Sie ruhig, ich tue Ihnen nichts.» Und dann laut brüllte: «Das ist eine Geiselnahme! Abstand! Ich fordere, dass Sie die Massnahme abbrechen und die Polizei rufen!»

Peter, damals 17 Jahre alt, hatte an diesem Morgen Hauswirtschafts­dienst. Seit sieben Monaten befand er sich wegen bewaffnetem Raub im Massnahmezentrum für straffällige Jugendliche. Er wohnte in der geschlossenen Abteilung, besuchte The­rapien und arbeitete in einer Werkstatt. Und er hasste es. Er fühlte sich bevormundet, gedemütigt. Im Minimum vier Jahre in diesem Zentrum verbringen zu müssen, erschien ihm unmöglich. In einem Moment höchster Verzweiflung fass­te er einen Plan: Er würde einen An­gestellten zur Geisel nehmen und verlangen, dass man die stationäre Massnahme abbricht. Viel lieber woll­te er nur noch seine Strafe im Gefängnis absitzen.

Sein Plan ging auf. 20 Minuten nachdem er den vorbeilaufenden Mann im Flur zwischen der Küche und den Büros gepackt hatte, nahm die Polizei Peter fest. Er hatte den Mann zu diesem Zeitpunkt bereits wieder losgelassen, die herbei­­ge­eilten Angestellten blieben auf Abstand. Im Frühling 2016 wurde er wegen Geiselnahme zu einem Jahr Ge­­fängnis verurteilt. Die Massnahme hob man auf. Wäre er zur Tatzeit volljährig gewesen, wäre das Straf­mass viel grösser ausgefallen.

Hoffnung auf Verständnis

Es ist November 2020. Peter sitzt in einem Café. Er trägt das Haar millimeterkurz, ist stilvoll gekleidet und berichtet mit ruhiger Gestik über diesen Moment, der ihn nicht mehr loslässt. Seit er vor vier Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, ver­läuft sein Leben unaufgeregt. Er wohnt in einer Schweizer Stadt und arbeitet als Kellner. Wie viele andere fragt er sich zurzeit, ob sein Betrieb wegen Corona schliessen muss, doch dieser Gedanke beunruhigt ihn nicht.

Mulmige Gefühle bereitet Peter etwas anderes: Er hat sich vorgenommen, den Mann zu treffen, der damals seine Geisel war. Er möchte ihm sagen, wie sehr er es bereut, ihm das angetan zu haben. Dass er kein bösartiger Mensch sei, sondern in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg sah. Dass er das Opfer zufällig wählte. Peter hofft, bei dem Mann Verständnis zu erwirken für die Hintergründe seiner Tat. Er sagt: «Ich wünsche mir, dass er mir verzeiht und es für ihn dadurch leichter wird. Und dadurch dann auch für mich.»

Der Mann war nach der Tat psychisch sehr angeschlagen und kündete seine Anstellung. Dass Peter eine Attrappe als Messer benutzt hatte, vermochte die Folgen seiner Todesangst nicht zu mindern. Peter schüttelt den Kopf. «Immer wieder frage ich mich: Wie war ich dazu fähig? Nie wollte ich einem unschuldigen Menschen etwas antun. Ich has­se das Bild von mir als Geiselnehmer. Ich möchte es so gerne ablegen.» Er schaut auf den Tisch, schweigt. Nach einem tiefen Atemzug sagt er: «Ich habe vor nichts im Leben Angst. Aber die Vorstellung, ihn zu treffen, macht mich nervös.»

Mit 14 in Untersuchungshaft

«Der Vorfall», wie Peter das damalige Ereignis nennt, war der Tiefpunkt einer jahrelangen Entwicklung. Er berichtet: «Ich geriet in schlechte Kreise. Meine Eltern arbeiteten viel und hatten trotzdem nie Geld.» Mehrmals habe er erlebt, wie Gläubiger den Vater anbrüllten. «Ich war nicht gern daheim.» Peter lernte andere Jugendliche aus schwie­rigen Verhältnissen kennen, von ihnen fühlte er sich verstanden. Mit zwölf trank er Alkohol; zunehmend war er in Diebstähle, Raub und Schlägereien verwickelt.

Mit 14 sass er wegen Körperverletzung und Raub erstmals in Untersuchungshaft, danach kam er in ein Heim für Jugendliche. Er rebellierte und wurde in ein anderes verlegt. Auch dort kooperierte er nicht. Als er 16 war, schickte man Peter zu seinen Eltern zurück. Doch besser wurde es nicht. Die Eltern waren in ein Dorf gezogen, die Schule weigerte sich, den delinquenten Jungen aufzunehmen. Nach drei Monaten rumhängen überfiel Peter einen Lebensmittelladen. «Ich spürte mich nicht mehr. Ich wollte, dass irgendwas passiert, das meinem Leben eine Richtung gibt. Egal was.»

Erwachsen – und ruhiger

Peter wurde verhaftet, verbrachte drei Monate ins Gefängnis und muss­te wieder in ein Jugendheim. Auch dort legte er sich quer. Als ein Sozialpädagoge die Geduld verlor und Peter packte, schlug dieser ihm mit der Faust ins Gesicht; eine Tat, die er nicht bereue, der Mann habe es verdient. Erneut landete er im Gefängnis. Im Februar 2015 brachte man den 17-Jährigen in jenes Massnahmezentrum für straffällige Jugendliche, in dem er sechs Monate später den Mann als Geisel packte.

Als er danach im Gefängnis war, nahm sein Leben eine Wendung. Er sagt: «Ich war total erleichtert, dort zu sein. Endlich war ich volljährig, und die Massnahmen vorbei. Das Entlassungsdatum war bekannt und ich konnte zum ersten Mal über mein Leben nachdenken. Und so realisierte ich, dass es so nicht weitergehen kann.» Nachdem Peter entlassen worden war, fand er einen Job in einem Restaurant. Sein Chef und seine Kollegen kennen inzwischen seine Vergangenheit.

Ein Pfarrer soll vermitteln

Im Café wird es lauter. Es ist Apérozeit, hinter Peter sitzen immer mehr Gäste an den Tischen. Letzten Sommer befand sich unter seinen Gästen zufällig ein reformierter Seel­sorger, dem Peter schon in Strafanstalten begegnet war. Bis dahin hatte er nie lange mit ihm gesprochen, doch als der Pfarrer ihn fragte, wie es ihm so gehe, vereinbarten sie ein Treffen. Peter erzählte ihm ausführ­lich über sein Leben. Und schilderte, wie ihn die Erinnerung an seine Geisel plagt.

Vor dem Gerichtsprozess  damals hatte Peter dem Mann einen Brief geschrieben, in dem er sich entschul­digte. Er weiss nicht, ob dieser ihn je gelesen hat, im Gerichtssaal habe der Mann ihn nie angeschaut. Er sagt: «Damals gratulierten mir Mitinsassen, sie fanden es gut, dass sich endlich mal jemand gegen das System gewehrt hat. Aber das berührte mich nicht, ich dachte nur an den Mann. Ich konnte mir nicht vergeben, was ich ihm antat.» Das Bedürf­nis, ihn um Verzeihung zu bitten, sei stets geblieben.

Peter und der Seelsorger fassten gemeinsam einen Plan: Der Seelsorger, der das einstige Opfer kennt, wird den Mann um ein Gespräch bitten und Peters Anliegen ansprechen. Kommt ein Treffen zustande, ist der Seelsorger als Vermittler dabei. Peter sagt, das Treffen sei sein grösster Wunsch. «Ich weiss nicht, wie ich sonst mit dieser Erinnerung weiterleben soll.»

* Name geändert