Die Vergebung geniesst im Allgemeinen einen guten Ruf. Nur so könne man mit schmerzhaften Erfahrungen abschliessen und gut weiterleben. Was finden Sie?
Susanne Boshammer: Vieles spricht in der Tat dafür dafür zu verzeihen. Doch wenn Vergebung wie in manchen Lebenshilfebüchern als eine Art Allheilmittel gepriesen wird, stimme ich nicht zu. Denn es gibt auch gute Gründe, nicht zu vergeben. Dazu gehört etwa der Respekt vor uns selbst. Eine Frau, die häusliche Gewalt erlebt und ihrem Mann immer und immer wieder verzeiht, riskiert, ihre Selbstachtung zu verlieren. Nicht immer zu verzeihen heisst, dass ich eine Grenze setze und nicht alles mit mir machen lasse. Diese Grenze gibt mir ein Profil, eine Art sittliche Kontur, die dem anderen signalisiert: bis hierher und nicht weiter.
Bedeutet für Sie verzeihen und vergeben dasselbe?
Ja, ich verwende die Begriffe austauschbar, wie im täglichen Sprachgebrauch. Manche unterscheiden aber zwischen den Begriffen. Für sie meint Vergebung die Aufhebung von Schuld, und die kann nur von Gott kommen. Verzeihen ist dagegen das, was wir Menschen tun. Wir können Schuld nicht ungeschehen machen. Aber wir können auf Vergeltung verzichten, auf offene oder versteckte Vorwürfe. Wir können uns entscheiden, den Groll auf den anderen zu überwinden, ihm erlauben, mit sich selbst ins Reine zu kommen und das schlechte Gewissen hinter sich zu lassen. Wenn wir verzeihen, dann tun wir genau das.
Im christlichen Glauben spielt die Vergebung eine zentrale Rolle.
Ja, die Vergebung der Sünden ist ein wesentlicher Teil des Evangeliums, der «frohen Botschaft» im Christentum. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mich als junges Mädchen nach Gottesdiensten regelrecht befreit fühlte und wirklich daran glaubte, dass Gott mir die Last der Schuld abgenommen hat. Ich konnte sozusagen mit weisser Weste neu anfangen. Später lernte ich, dass sich der Begriff Sünde sprachlich ableiten lässt von sondern, sich absondern. Die Sünde trennt uns von Gott, sie schafft Distanz.
Wenn wir darum bitten, können wir göttliche Vergebung erlangen. Sollte uns das nicht Vorbild sein?
Nur bedingt – denn selbst wenn man an diese göttliche Verheissung glaubt, lässt sie sich nicht einfach so auf unser Zusammenleben als Menschen übertragen. Vergebungsbereitschaft ist eine Tugend, aber es braucht auch Konfliktfähigkeit, die Kraft, Trennendes auszuhalten, und den Mut, es anzuerkennen. Wer immer gleich verzeiht, nimmt dem anderen vielleicht die Möglichkeit zu bereuen.
Dazu kommt: Verzeihen ist nicht dasselbe wie Versöhnung. Vergebung heisst also nicht unbedingt, dass die Beteiligten danach wieder Freunde sind; sie kann auch einfach eine Trennung erleichtern. Ein Paar, das sich scheiden lässt, kann seine Geschichte nicht ungeschehen machen. Aber beide können das Belastende daran hinter sich lassen, um daraufhin gemeinsam getrennte Wege zu gehen. Wer verzeiht, muss nicht versuchen zu vergessen, was alles geschehen ist. Die Vergangenheit werden wir ohnehin nicht einfach so auf Knopfdruck los, aber wir können eine andere Haltung dazu finden.
Es spricht also durchaus einiges für das Verzeihen.
Absolut. Als Erstes die Tatsache, dass wir alle mitunter Unrecht tun und uns von anderen Vergebungsbereitschaft wünschen. Natürlich gibt es ganz unterschiedliche Arten von Unrecht. Das Spektrum reicht vom banalen Fehlverhalten im Alltag bis hin zu Demütigungen, Misshandlungen, Gewaltausübung sowie Verbrechen. Unabhängig vom Schweregrad der Schuld steht hinter dem Verzeihen jedoch immer eine Haltung der Humanität.