Schwerpunkt 29. Dezember 2020, von Katharina Kilchenmann

«Es gibt gute Gründe, nicht zu vergeben»

Vergebung

Was tun mit unheilbaren Wunden? Manchmal sei es besser, nicht allzu schnell vergeben zu wollen, findet die Philosophin Susanne Boshammer. Aber doch lieber vergeben als vergelten.

Die Vergebung geniesst im Allge­mei­nen einen guten Ruf. Nur so könne man mit schmerzhaften Er­fah­run­­gen abschliessen und gut weiterleben. Was finden Sie?

Susanne Boshammer: Vieles spricht in der Tat dafür dafür zu verzeihen. Doch wenn Vergebung wie in manchen Lebenshilfebüchern als eine Art Allheilmittel gepriesen wird, stimme ich nicht zu. Denn es gibt auch gute Gründe, nicht zu vergeben. Dazu gehört etwa der Respekt vor uns selbst. Eine Frau, die häusliche Gewalt erlebt und ihrem Mann immer und immer wieder verzeiht, riskiert, ihre Selbstachtung zu verlieren. Nicht immer zu verzeihen heisst, dass ich eine Grenze setze und nicht alles mit mir machen lasse. Diese Grenze gibt mir ein Profil, eine Art sittliche Kontur, die dem anderen signalisiert: bis hierher und nicht weiter.

Bedeutet für Sie verzeihen und vergeben dasselbe?

Ja, ich verwende die Begriffe austauschbar, wie im täglichen Sprachgebrauch. Manche unterscheiden aber zwischen den Begriffen. Für sie meint Vergebung die Aufhebung von Schuld, und die kann nur von Gott kommen. Verzeihen ist dagegen das, was wir Menschen tun. Wir können Schuld nicht ungeschehen machen. Aber wir können auf Vergeltung ver­zichten, auf offene oder versteckte Vorwürfe. Wir können uns entschei­den, den Groll auf den anderen zu überwinden, ihm erlauben, mit sich selbst ins Reine zu kommen und das schlechte Gewissen hinter sich zu lassen. Wenn wir verzeihen, dann tun wir genau das.

Im christlichen Glauben spielt die Vergebung eine zentrale Rolle.

Ja, die Vergebung der Sünden ist ein wesentlicher Teil des Evangeliums, der «frohen Botschaft» im Christentum. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mich als junges Mädchen nach Gottesdiensten regelrecht befreit fühlte und wirklich daran glaub­te, dass Gott mir die Last der Schuld abgenommen hat. Ich konnte sozusagen mit weisser Weste neu anfangen. Später lernte ich, dass sich der Begriff Sünde sprachlich ableiten lässt von sondern, sich absondern. Die Sünde trennt uns von Gott, sie schafft Distanz.

Wenn wir darum bitten, können wir göttliche Vergebung erlangen. Sollte uns das nicht Vorbild sein?

Nur bedingt – denn selbst wenn man an diese göttliche Verheissung glaubt, lässt sie sich nicht einfach so auf unser Zusammenleben als Menschen übertragen. Vergebungsbereitschaft ist eine Tugend, aber es braucht auch Konfliktfähigkeit, die Kraft, Trennendes auszuhalten, und den Mut, es anzuerkennen. Wer immer gleich verzeiht, nimmt dem anderen vielleicht die Möglichkeit zu bereuen.

Dazu kommt: Verzeihen ist nicht dasselbe wie Versöhnung. Vergebung heisst also nicht unbedingt, dass die Beteiligten danach wieder Freunde sind; sie kann auch einfach eine Trennung erleichtern. Ein Paar, das sich scheiden lässt, kann seine Geschichte nicht ungeschehen machen. Aber beide können das Belastende daran hinter sich lassen, um daraufhin gemeinsam getrennte Wege zu gehen. Wer verzeiht, muss nicht versuchen zu vergessen, was alles geschehen ist. Die Vergangenheit werden wir ohnehin nicht einfach so auf Knopfdruck los, aber wir können eine andere Haltung dazu finden.

Es spricht also durchaus einiges für das Verzeihen.

Absolut. Als Erstes die Tatsache, dass wir alle mitunter Unrecht tun und uns von anderen Vergebungsbereitschaft wünschen. Natürlich gibt es ganz unterschiedliche Arten von Unrecht. Das Spektrum reicht vom banalen Fehlverhalten im Alltag bis hin zu Demütigungen, Misshand­lun­gen, Gewaltausübung sowie Verbrechen. Unabhängig vom Schweregrad der Schuld steht hinter dem Verzeihen jedoch immer eine Haltung der Humanität.

Nicht immer zu verzeihen heisst, dass ich eine Grenze setze und nicht alles mit mir machen lasse.
Susanne Boshammer,

Wie ist das zu verstehen?

Wir sehen im anderen den ganzen Menschen und reduzieren ihn nicht auf die Tat. Bei Massenmorden oder Attentaten gelingt das oft nicht. Es ist, als ob der Täter als Mensch hinter der Grausamkeit der Tat ver­schwin­det. Grundsätzlich sollten wir aber jedem im Geist der Humanität begegnen, und diese Haltung spricht für das Verzeihen.

Gibt es also aus Ihrer Sicht nichts Unverzeihliches?

Ich will es so formulieren: Wir dürfen einander alles verzeihen. In dieser Entscheidung sind wir frei. Verzeihen heisst ja nicht entschuldigen oder billigen. Wenn jemand wie die KZ-Überlebende Eva Mozes Kor ihren Peinigern vergibt, kann das ein Akt der Befreiung sein, der Selbstermächtigung, der Entschlossenheit, sich nicht mehr vom Gefühl des Opferseins bestimmen zu lassen. Mozes Kor wurde dafür heftig kritisiert. «Man darf doch den Nazis nicht verzeihen», hiess es. Diese Kritik ist verständlich, aber sie ist aus meiner Sicht nicht berechtigt. Die Opfer allein haben das Recht, zu entscheiden, ob sie dem anderen verzeihen oder nicht.

Gefühle wie Wut, Schmerz oder Groll können heftig und belastend sein. Wie kann man sie nachhaltig hinter sich lassen?

Es beginnt damit, diese Empfindungen zuzulassen und ernst zu nehmen. Wir müssen das Geschehene in seiner ganzen Schwere an uns heranlassen, statt nachsichtig «ein Auge zuzudrücken». Erst wenn klar ist, dass es hier wirklich etwas zu verzeihen gibt, können wir den Entschluss fassen, das Gefühl des Grolls zu überwinden. Dazu ist es wichtig, dass wir die Gedanken und Gefühle nicht länger nähren, etwa indem wir die Geschichte wieder und wieder erzählen.

Verzeihen ist anstrengend.

Mag sein, aber ich behaupte auch nicht, dass es leicht geht oder dass es in jedem Fall geht. Die Frage ist doch vielmehr, will man es versuchen? Es ist eine Möglichkeit, aber man darf niemanden dazu zwingen. Etwa mit Sätzen wie: Ach, wir sind doch alles nur fehlerhafte Menschen. Ja, wir sind Menschen und stehen als solche auch in der Verantwortung. Manchmal ist es zu unserem eigenen Schutz und zum Schutz anderer ratsam, nicht allzu bereitwillig zu verzeihen.

Wenn man geistliche Führer wie den Dalai Lama oder den Süd­afrikaner Desmond Tutu über Ver­gebung reden hört, könnte man meinen, mit dem Entschluss zu verzeihen, sei es eigentlich schon getan.

Der Entschluss ist wichtig. Er hilft, die negativen Gefühle nach und nach «auszuhungern», die Vorwurfs­haltung zu überwinden und dem an­deren seine Schuld nicht länger nach­zutragen. Aber Vergebung will gelebt sein, und hier liegt die eigentliche Herausforderung.

Was, wenn sich jemand selber nicht verzeihen kann? Nicht selten hadern Menschen, besonders im Alter, mit dem, was sie getan oder eben nicht getan haben.

Auch hier hilft die Haltung der Humanität: Nicht nur die anderen, auch ich selbst bin ein Mensch, und jeder Mensch ist mehr als das, was er tut. Wer Schuld auf sich geladen hat, sollte sich dazu bekennen und unternehmen, was er kann, um den Schaden wiedergutzumachen und seinen Fehler nicht zu wiederholen. Aber mehr geht nicht. Auch wir selbst haben, so wie alle anderen, Wohlwollen verdient.

Gibt es ein Recht auf Vergebung?

Niemand hat ein Recht auf Vergebung. Aber jeder Mensch hat ein Recht darauf, nicht auf einzelne Taten reduziert zu werden. Wenn wir in uns selbst und anderen den ganzen Menschen sehen und aner­kennen, ist das oft schon der erste Schritt auf dem Weg zum Verzeihen.

Susanne Boshammer, 52

Susanne Boshammer, 52

Die Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Osnabrück befasst sich mit Moralphilosophie und angewandter Ethik. Vorher war sie Oberassistentin am Ethik-Zentrum der Universität Zürich und Assistenzprofessorin für Praktische Philosophie an der Universität Bern.

Susanne Boshammer: Die zweite Chance. Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten. Rowohlt, 2020.