Schwerpunkt 29. Dezember 2020, von Delf Bucher

Ein Mittel gegen den brodelnden Vulkan

Vergebung

Viele prominente Beispiele und auch die Forschung zeigen, warum das Thema im Christentum, Islam und Judentum zentrale Bedeutung hat: Vergebung ist etwas für den Seelenfrieden.

Am 15. März 2019 massakrierte ein australischer Rassist in zwei Moscheen von Christchurch in Neusee­land 51 Menschen. Unter den Toten befand sich Husna Ahmed. Ihr Ehemann Farid Ahmed überraschte die Welt mit den Worten, die er bei der Trauerzeremonie sprach: «Ohne Vergebung, ohne Barm­herzigkeit zu zeigen, kann ich kein wahrer Anhänger Allahs sein. Ich möchte kein Herz haben, das wie ein Vulkan kocht.»

Damit hat sich Ahmed von den Fesseln befreit, die Hinterbliebene von Mordopfern so oft an die Täter kettet. Er zeigte dabei auch einen besonderen Aspekt der Vergebung. Er vergab, ohne den Täter dabei miteinzubeziehen. Den Täter und dessen Einsicht in sein Unrecht braucht es erst, wenn es um Versöh­nung geht. Farid Ahmed half sein Glaube. Dieser eröffnete ihm die Möglichkeit, Gott als Richter ein­zusetzen, der über das Massaker urteilen wird.

Gott richtet, Gott vergibt: «Vergib uns unsere Schuld.» Aber Gott zählt auch auf die vergebenden Men­schen: «… wie auch wir ver­ge­ben unseren Schuldigern.» Nur wenn beide Teile miteinander verschränkt werden, ist die millio­nenfach gesprochene Bitte im christ­lichen Unservater-Gebet keine Floskel. Ähnliches findet sich auch in der Koransure wieder, welche die Gläubigen zum Vergeben auffordert und daran erinnert: «Wünscht ihr nicht, dass Allah, der Allvergebende und Barmherzige, euch vergibt?»

Vergebenskulturen

Vergebung hat in den drei abra­hamitischen Religionen einen festen Platz. Dafür steht auch die biblische Josef-Geschichte: Der von seinen Brüdern beinahe Getötete vergibt ihnen, als sie hungernd als Bittsteller nach Ägypten kommen. In religiös anders geprägten Weltgegenden hat Vergebung jedoch ­einen anderen Klang.

Der Schweizer Pfarrer Tobias Brand­­ner, der seit einem Viertel­jahr­­hundert in Hongkong lebt, kann aus eigener Erfahrung die Un­terschiede zwischen europäischer und chinesischer Vergebungs­kultur benennen. «In China will man den anderen nicht in die Si­tuation bringen, dass er um Vergebung bitten muss», sagt Brandner. Das Modell, harmonische Beziehungen nicht zu stören und den anderen unter keinen Umständen in eine Situation hineinzu­manövrieren, in der er sein Gesicht verlieren könnte, bestimme das zwischenmenschliche Miteinander.

Das im Alltag fehlende Konzept strahlt laut Brandner auf die po­litische Ebene aus. So weigert sich Japan, seine barbarische Besatzungspolitik während des Zweiten Weltkriegs in vielen Ländern ­Asiens zu bekennen. China wiede­rum ist nicht bereit, die Milli­­onen von Opfern unter Maos Herrschaft zu rehabilitieren. «Der ek­latante Unterschied zwischen Eu­ropa und Asien im Umgang mit den Abgründen der Geschichte sticht mir vorab in Berlin ins Auge», sagt Brandner. 200 Meter vom Bran­denburger Tor entfernt stehe prominent das Holocaust-Denkmal.

Unbestritten ist, wie vor 50 Jahren der Kniefall des deutschen Bun­deskanzlers Willy Brandt vor dem Mahnmal für die Opfer des Auf­­stands im Warschauer Ghetto das deutsch-polnische Verhältnis veränderte. Auch Nelson Mandela, der nach 27 Jahren Haft 1990 die Losung «Vergeben, um zu vergessen» ausgab, hat bewiesen, welch eine politische Wirkung Vergebung entfalten kann.

Gegen Wut und Angst

Vergeben, das hat das Beispiel Farid Ahmeds gezeigt, entfaltet auch individuell eine positive Wirkung für den Seelenfrieden. Der ame­rikanische Psychologieprofessor Ro­bert Enright hat mit unzähligen Probanden bewiesen, dass Vergeben den Weg öffnet, um nach einer grossen Vertrauenskrise Symptome wie Wut, Angststörungen oder Depressionen zurückzudrängen. Aber der Professor hält auch fest: «Eine Frau, die aus einer gewalt­tätigen Ehe kommt, kann ihrem Ex-Mann auch verzeihen, ohne zu ihm zurückzukehren und sich zu versöhnen.»