Schwerpunkt 22. Februar 2018, von Thomas Illi

Der Fleisch gewordene Protest

Die Wurst

Sie ist ein deftiges Stück Kulinarik und Abbild der regionalen Vielfalt in der Schweiz. «reformiert.» bittet zum Wurstschmaus – trotz vorösterlicher Fastenzeit.

«Zum ersten spricht Christus Mathei 15: Das da ingadt in den Mund, vermassget (verunreinigt, Red.) den Menschen nit...» Aus diesen Worten, so der Text weiter, merke jedermann wohl, dass keine Spei­se, die mit Mass und Dankbarkeit genossen werde, den Menschen zu verunreinigen möge.

Das sind Passagen aus einer SchriftdesZürcher Leutpriesters Huldrych Zwingli vom 16. April 1522. Gedruckt hatte das Werk Zwinglis Freund Christoph Froschauer. Es basierte auf einer kurz zuvor gehaltenen Predigt Zwinglis, die eigentlich eine Verteidigungs­rede für Froschauer war. Denn der Drucker hatte sich erdreistet, am 9. März 1522, dem ersten Sonntag der Fastenzeit, in seinem Haus für sich und seine Druckergesellen und im Beisein mehrerer weltlicher und geistlicher Hono­ratioren ein Wurstessen zu veranstalten, als Protest gegen das Abstinenz- und Fastengebot. Der Grosse Rat ordnete sofort eine Untersuchung zum frechen Fastenbruch an.

Zwinglis von der Kanzel gepredigte«Meynung», ob es statthaft sei, die Speisen zu bestimmten Zeiten zu verbieten, erschien bereits am Gründonnerstag im Druck und löste eine breite Kontroverse aus. Das provokative Verzehren einer in dünne, oblatengleiche Scheiben geschnittenen Rauchwurst gilt seit­her, wie man heute sagen würde, als «Kick-off» der Reformation in Zürich.

Sind Wurstsessen, wie sie dieser Tage manchenorts inszeniert werden, einfach folkloristische Vermarktung des Reformationsjubiläums? Nein. «reformiert.» hat sachkundige Menschen zu Tisch gebeten, weil sich zum deftigen Schmaus vortrefflich über Religionsgeschichte, über Trennendes und Verbindendes, über Ökumene, Kultur und Volkstum disputieren lässt. Auch im Volk ist die Sym­bolkraft der Wurst durchaus lebendig: Das Zürcher Oberland etwa, einst umkämpftes Grenzland des reformatorischen Zürich zum gasterländischen Katholi­zismus, pflegt noch heute liebevoll den Brauch des «Schübligziischtig».

Nicht wie im katholisch-ale­mannischen Raum am «Schmutzigen Don­ners­tag», zum Auftakt der Fas­nachts­tage, wurde und wird hier seit der Refor­ma­tion das Wurstessen zelebriert, son­dern erstam Dienstag unmittelbar vor Aschermittwoch, hart an der Grenze zur obrigkeitlich und klerikal verordneten vierzigtägigen fleisch­losen Fastenzeit. Und dank Va­ku­umierung lässt sich die an sich rebellische Tat auch heute noch vollbrin­gen: den Schübling einige Tage nach Ascher­mittwoch zu verzehren.

Das reformiert.-Wurstessen im Video: