Schwerpunkt 22. Februar 2018, von Stefan Schneiter

Vom provozierenden Wurstmahl zum provozierenden Verzicht

Die Wurst

Eine Künstlerin, ein reformierter Pfarrer, eine katholische Ordensschwester und ein Kulinarikfachmann treffen sich zum Wurstessen in der Kapelle.

Wir haben Sie gebeten, eine Wurst auszuwählen, die wir nun zube­reitet haben. Welche ist Ihre Wurst?

Irene Gassmann: Bevor ich ins Benediktinerinnenkloster eingetreten bin, habe ich die Bäuerinnenschule absolviert. Dort lernten wir auch, selbst zu wursten. Die Leberwurst verbinde ich mit dieser Zeit.

Dominik Flammer: Ich wählte den Fastenbrecher schlechthin. Die Boute­fas aus dem Waadtland ist die grösste Wurst der Schweiz. Das Wursten ist ja die eigentliche Königsdisziplin des Metzgerhandwerks. Das Rind auseinanderschneiden kann der Lehrling, wursten jedoch ist Chefsache. Früher war die Wurst ein Luxusprodukt. Die Schweine wurden im Wald gehalten und ernährten sich von Eicheln, Wurzeln, Schnecken. Ihr Fleisch war entsprechend mager. Zur Zeit des Wurstessens beim Drucker Froschauer 1522 war eine Wurst so wertvoll wie heute vielleicht ein Rindsfilet.

Was verbinden Sie mit der Hirsch­wurst, die Sie ausgesucht haben?

Esther Schena: Diese Siedwurst erinnert mich an eine Ausstellung von 2012 im Rätischen Museum in Chur zur Wurst. Ich habe damals Bilder von Wildtieren auf gebrauchte Küchenbrettchen gedruckt und bemalt. Die Tierbilder stammten aus Fotofallen, die Jäger in den Bündner Wäldern aufstellen.

Sie wollten zeigen, was hinter der Wurst steht, die wir auf dem Küchenbrettchen schneiden?

Schena: So arbeite ich nicht. Es ging mir nicht um das herzige Reh, das getötet und zur Wurst verarbeitet wird. Wichtig war mir, dass ich gebrauchte Holzbrettchen verwende. Darauf sind die Schnittspuren zu erkennen. Sie erzählen ganz persönliche Geschichten. Dann kommt die Geschichte vom Tier dazu, das in die Fotofalle tappt. Die Tierbilder beziehen sich auf die digitale Welt. Diese Mischung aus öffentlich und privat hat mich interessiert.

«Das Wurstessen war eine Inszenierung, mit der die Doppelmoral der Kirche offensichtlich wurde.»

Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster

 

 

Und der Pfarrer am Zürcher Grossmünster serviert eine St. Galler Bratwurst. Warum?

Christoph Sigrist: Mit St. Gallen verbinde ich meinen Lehrblätz zum Fasten. Als ich Pfarrer an der Kirche St. Laurenzen war, feierte ich einen ökumenischen Gottesdienst am Aschermittwoch. Danach servierten wir Gerstensuppe. Die Mesmerin tat Speck in die Suppe. Für die Katholiken war das ein Affront, sie assen nichts. Und natürlich musste ich als Zürcher viele Sprüche anhören zum Senf, den ich immer dazu gebe. Zur St. Galler Bratwurst ist Senf ja streng verboten.

Der Zürcher Reformator Zwingli ass 1522 keine Wurst und gab erst später seinen Senf dazu. Verliess ihn beim Wurstessen der Mut?

Sigrist: Zwingli war ein schlauer Fuchs, ein Politiker. Hätte er von der Wurst gegessen, hätte er sich ins Abseits manövriert. Mit seiner Präsenz duldete er den Fastenbruch zwar, verstiess selbst aber gegen kein Gesetz. Zwei Wochen später konnte er aus der Position der Unabhängigkeit heraus den Fastenbruch von der Kanzel im Grossmünster herab verteidigen. Damit provozierte er nicht nur den Bischof von Konstanz, er musste sich auch vor dem Zürcher Rat rechtfertigen, der für die Einhaltung der Fastengesetze zuständig war. Zwing­li überzeugte den Rat. Für den Reformator war das Wurstessen eine Inszenierung, die zeigte, wie religiös begründete Regeln durch die Macht der Kirche instrumentalisiert und im Alltag ohnehin unterlaufen wurden. Vom Bischof forderte er, auch gleich den Zölibat für Priester abzuschaffen.

Flammer: Das Wurstessen machte nur öffentlich, was im Verborgenen schon längst üblich war. Kranke waren von den strengen Fastenregeln ausgenommen. Ein Historiker aus Österreich hat in seiner Dissertation aufgezeigt, dass sich bis zu achtzig Prozent der Leute krank meldeten während der Fastenzeit. Lange Zeit waren ja sogar Milchprodukte und Eier verboten.

«Wie meine Werke interpretiert werden, will ich nicht beeinflussen. Die Zweckfreiheit ist mir wichtig.» 

Esther Schena, Künstlerin

 

 

In der Fastenzeit wurden alle Menschen zu Veganern?

Flammer: Sie sollten es zumindest. Aber es gab viele Ausnahmen. Die Kirche verkaufte Butterbriefe. Damit konnten sich Städte vom Fastengebot freikaufen und mit Milchprodukten handeln. Der Petersdom in Rom wurde mit dem Verkauf der Butterbriefe finanziert. Zugleich waren die Leute extrem kreativ, um Fastenregeln aufzuweichen. Fisch war ja ohnehin vom Verbot ausgenommen. Benediktinermönche behaupteten sogar, dass eine bestimmte Gans einer Muschel entspringe und verzehrt werden dürfe.

Sigrist: Auch der Zölibat war eine Farce. Sogar Päpste hatten Kinder. Das Wurstessen war der geplante Coup, mit dem die ganze Doppelmoral der Kirche offensichtlich wurde. Insofern war Zwingli ein Künstler.

Schena: Vielleicht nutzte er mit dem inszenierten Wurstessen die Mittel der Kunst. Doch er zielte ganz klar auf eine politische Wirkung ab. Als Künstlerin entwickle ich ein Werk durch Recherchen und Materialproben im Prozess, bis mich das Werk im Ausdruck wie auch ästhetisch überzeugt. Wie meine Werke dann interpretiert werden, kann und will ich nicht beeinflussen. Die Zweckfreiheit ist mir wichtig.

War das Wurstessen auch aus katho­lischer Sicht nötig?

Gassmann: Es war eine Provokation, die zur Kirchenspaltung führte. Ich glaube, es hätte auch Wege gegeben, die Kirche von innen heraus zu erneuern. Wir sollten gemeinsam in einem Prozess Veränderungen erwirken, statt den Hammer der Provokation hervorzuholen.

Wie fasten Sie im Kloster?

Gassmann: Benedikt hat ein eigenes Kapitel über das Fasten geschrieben. Für ihn geht es in dieser Zeit darum, das zu üben, was man sonst über das Jahr vernachlässigt, um ein Mehr an Leben zu gewinnen. Fasten soll nicht im stillen Kämmerlein passieren, sondern mit Gottes Segen und Verbindlichkeit. Darum legen die Schwestern ihre Fastenübungen der Priorin vor.

«Zwinglis Provokation führte zur Spaltung. Wir sollten die Kirche aber von innen heraus erneuern.»

Irene Gassmann, Priorin des Klosters Fahr

 

 

Der Speiseplan ändert sich nicht?

Gassmann: Nein. Es gibt in der Fastenzeit einfach an zwei Abenden Suppe. Wir essen ohnehin nur drei Mal in der Woche Fleisch. Für die Fastenzeit nimmt sich eine Schwester zum Beispiel vor, achtsamer mit einem Mitmenschen umzugehen, dem sie gerne aus dem Weg geht. Ich verzichte oft auf Schokolade, weil ich sie so gerne mag. Ich habe die Erfahrung gemacht, wie gross die Vorfreude auf das erste Praliné ist. Einmal verordnete ich den Schwestern in der Fastenzeit einen freien Samstagnachmittag. Einige gingen spazieren, andere sassen beim Kaffee zusammen. Das löste so viel aus, dass der freie Nachmittag nun zu unserem Alltag gehört.

So macht das Fasten Spass.

Flammer: Fastenregeln sind sinnvoll, wenn sie nicht dogmatisch angewendet werden. Sie geben durch das Jahr den Rhythmus vor. Im Herbst wurde geschlachtet, zur Fastenzeit war kaum noch Fleisch da. Durch den Wegfall dieser Rituale ging viel verloren. Wir haben kaum noch ein Gefühl für Saisonalität.

Gassmann: Das Fasten darf durchaus Spass machen. Benedikt schreibt, dass die Freude im Zentrum steht. Natürlich auch die Vorfreude auf Ostern, wenn die Passionszeit zu Ende geht und wir die Auferstehung Jesu Christi feiern.

Welche Rolle spielt das Fasten oder der Verzicht in der Kunst?

Schena: Verzicht ist immer Teil der Kunst. Ich verzichte auf einiges, damit ich meinen Beruf ausüben kann. So bedeutet Kunst, auf Regelmässigkeit im Leben zu verzichten, nicht zuletzt beim Einkommen.

«Das Rind zerteilen kann der Lehrling. Die Wurst aber macht ein stolzer Metzger immer selbst.»

Dominik Flammer, Autor und Kulinarikexperte

 

 

Hätte die Kirche auch heute wieder ein Wurstessen nötig?

Sigrist: Sicher nicht, um sich von der anderen Konfession abzugrenzen. Wir sind uns extrem nahe. Die Kirche muss das Wort ergreifen, wenn politische oder soziale Entwicklungen dem Evangelium widersprechen. Und da ist die Provokation durchaus ein legitimes Mittel.

Gassmann: Für mich wäre ein modernes Wurstessen, wenn beide Kir­chen ihre Mitglieder dazu motivieren würden, eine Woche lang zu fasten. Das Fasten kennen wir ja fast nur noch vom muslimischen Ramadan her. Aber es ist auch eine christliche Tradition. Die Reformierten müssten vielleicht über ihren Schatten springen.

Sigrist: Überhaupt nicht. Es gibt viele Fastengruppen in der reformierten Kirche. Aber ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Zürich verzichtet. Das ist in der Bankenstadt doch eine ungeheure Provokation. Verzichten sollten wir auf die Gier oder auf die Bilder, die wir uns von anderen Menschen machen. Ein solches Programm könnten alle Religionen unterschreiben.

Flammer: Mich stört dieser religiösunterfütterte Kulturpessimismus. Verzicht ist doch Blödsinn. Ich nehme ein Beispiel: Ein Vegetarier fährt ein Dieselauto und hört im Radio von den Abgastests mit Affen. Er müsste gleich anhalten und aussteigen. Aufrufe zum Verzicht bringen die Menschen nur ins Dilemma.

Dann doch lieber eine Wurst essen?

Flammer: Zwischendurch auf Würste verzichten, kann durchaus sinnvoll sein. Von einem kompletten Verzicht halte ich nichts.

Gassmann: In der Wurst ist Fleisch, das sonst nicht verwendet werden könnte. Dass weniger Essen weggeworfen wird, müsste auch auf die Liste unserer Fastenaktion.

Flammer: Wobei früher viel mehr Resten verwendet wurden. Heute ist nicht einmal mehr in der Berner Zungenwurst wirklich Zunge drin. Stattdessen wird Braten verwendet.

Schena: Wichtig finde ich, dass sich das Fasten nicht auf den Verzicht auf Essen beschränkt. Essen ist etwas Zentrales, es verbindet.

Sigrist: Den hier propagierten Verzicht kann natürlich niemand verordnen, er muss freiwillig erfolgen.

Womit wir wieder bei Zwinglis Kri­tik am Fastengebot sind.

Sigrist: Genau. Zwingli wehrte sich nur gegen den Zwang, den Kirche und Staat ausübten. Alle Christen sollten die Freiheit haben, zu fasten oder eben nicht. Wir würden mit unserem Aufruf keinen Zwang ausüben, aber bewusst machen, dass wir Verzicht in einer Gesellschaft, in der fast alles möglich geworden ist, nötiger haben denn je. Verzicht bedeutet heute oft Freiheit.

Flammer: Mir bleibt der Aufruf zum bewussten Genuss sympathischer.

Der ist jetzt aber auch nur ein Schlagwort.

Flammer: Ich kaufe nur Fleisch, das von biologischen Höfen stammt. Wenn ich die Ernährung nach der Saison richte und regionale Produk­te verwende, esse ich ganz ohne Verzicht gesund und abwechslungs­reich. Das meine ich damit.

Gassmann: Bewusst leben – genau das ist für mich benediktinisch.

Flammer: Auch bewusste Völlerei kann glücklich machen.

Wie Zwinglis Wohnsitz zum Kulturhaus wurde

Die Helferei an der Kirchgasse in Zürich wurde 1270 erstmals als Haus des Leut­priesters und Chorherren Welche urkundlich erwähnt. Als «Schulei» diente sie ab 1412 als Unterkunft für die Mitar­beiter des Grossmünsterstifts. 1525 zog der Refor­mator Huldrych Zwingli mit seiner Familie ins Haus ein, hier wohnte er bis zu seinem Tod im Zweiten Kappeler Krieg 1531.

Neugotische Kapelle

1832 wurde die Schulei in Helferei umbenannt. An der Kirchgasse befand sich nun der Amtssitz der Grossmünster-Diakonie. Dieser sozialen Tradition fühlt sich das Haus bis heute verpflichtet. In den Jahren von 1858 bis 1861 wurde die neugotische Kapelle erbaut, in der am 29. Januar auch das Wurstessen von «reformiert.» stattfand. Die Würste wurden also noch vor dem Beginn der Fas­ten­zeit serviert. Für die Organisation, Zubereitung und Dekoration waren Maja Davé und Su­sanne Kreuzer verantwortlich.

Kultur und Kirche

Seit 1974 ist die Helferei ein Zentrum für Kultur und Begegnung. 2012 wurden das Haus und die Kapelle aufwändig umgebaut und renoviert. Im Kulturhaus stehen Literatur, Theater, Diskussionen, Musik und Ausstel­lungen auf dem Programm.

Die Personen

Dominik Flammer, 51
Der studierte Ökonom war Journalist und hat sich inzwischen auf das kulinarische Erbe des Alpenraums spezialisiert. Er engagiert sich für eine engere Zusammenarbeit zwischen Land­wirtschaft und Gastronomie. Der Autor vieler Bücher und Drehbücher leitet zurzeit den Aufbau des Kompetenzzentrums für alpine Kulinarik, das im Herbst 2019 im früheren Kapuzinerkloster in Stans eröffnet wird.

Irene Gassmann, 52
Seit 2003 leitet Irene Gassmann das Benediktinerinnenkloster Fahr, das 1130 gegründet wurde und zur Abtei von Einsiedeln gehört. Das Kloster 
ist eine Aargauer Enklave im Kanton Zürich. Als Priorin trägt Irene Gassmann die Verantwortung für die klostereigenen Wirtschaftsbetriebe. 
Für die nicht mehr benötigten Gebäude sucht das Kloster Investoren. 
Zurzeit werden die eingereichten Projekte geprüft.

Esther Schena, 41
In Müstair aufgewachsen, lebt und arbeitet Esther Schena in Zürich. Sie 
absolviert ein Masterstudium an der Zürcher Hochschule der Künste. 
2009 erhielt sie den Förderpreis des Kantons Graubünden. 2012 stellte 
Esther Schena im Rätischen Museum in Chur im Rahmen der Ausstellung «Die Wurst» aus. Als Sonderausstellung waren ihre Werke später auch im 
Mühlerama in Zürich zu sehen.

Christoph Sigrist, 55
Seit 2003 ist Christoph Sigrist Pfarrer am Grossmünster in Zürich. Vom 
Kirchenrat wurde er als Reformationsbotschafter eingesetzt. Seine erste 
Pfarrstelle hatte er in der Toggenburger Gemeinde Stein, später initiierte er 
in St. Gallen die Citykirche St. Leonhard. Christoph Sigrist ist Privatdozent für 
Diakoniewissenschaft an der Universität Bern und präsidiert das Zürcher 
Forum der Religionen.

Die Erkenntnisse des Wurstessens: