Wir haben Sie gebeten, eine Wurst auszuwählen, die wir nun zubereitet haben. Welche ist Ihre Wurst?
Irene Gassmann: Bevor ich ins Benediktinerinnenkloster eingetreten bin, habe ich die Bäuerinnenschule absolviert. Dort lernten wir auch, selbst zu wursten. Die Leberwurst verbinde ich mit dieser Zeit.
Dominik Flammer: Ich wählte den Fastenbrecher schlechthin. Die Boutefas aus dem Waadtland ist die grösste Wurst der Schweiz. Das Wursten ist ja die eigentliche Königsdisziplin des Metzgerhandwerks. Das Rind auseinanderschneiden kann der Lehrling, wursten jedoch ist Chefsache. Früher war die Wurst ein Luxusprodukt. Die Schweine wurden im Wald gehalten und ernährten sich von Eicheln, Wurzeln, Schnecken. Ihr Fleisch war entsprechend mager. Zur Zeit des Wurstessens beim Drucker Froschauer 1522 war eine Wurst so wertvoll wie heute vielleicht ein Rindsfilet.
Was verbinden Sie mit der Hirschwurst, die Sie ausgesucht haben?
Esther Schena: Diese Siedwurst erinnert mich an eine Ausstellung von 2012 im Rätischen Museum in Chur zur Wurst. Ich habe damals Bilder von Wildtieren auf gebrauchte Küchenbrettchen gedruckt und bemalt. Die Tierbilder stammten aus Fotofallen, die Jäger in den Bündner Wäldern aufstellen.
Sie wollten zeigen, was hinter der Wurst steht, die wir auf dem Küchenbrettchen schneiden?
Schena: So arbeite ich nicht. Es ging mir nicht um das herzige Reh, das getötet und zur Wurst verarbeitet wird. Wichtig war mir, dass ich gebrauchte Holzbrettchen verwende. Darauf sind die Schnittspuren zu erkennen. Sie erzählen ganz persönliche Geschichten. Dann kommt die Geschichte vom Tier dazu, das in die Fotofalle tappt. Die Tierbilder beziehen sich auf die digitale Welt. Diese Mischung aus öffentlich und privat hat mich interessiert.
«Das Wurstessen war eine Inszenierung, mit der die Doppelmoral der Kirche offensichtlich wurde.»
Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster
Und der Pfarrer am Zürcher Grossmünster serviert eine St. Galler Bratwurst. Warum?
Christoph Sigrist: Mit St. Gallen verbinde ich meinen Lehrblätz zum Fasten. Als ich Pfarrer an der Kirche St. Laurenzen war, feierte ich einen ökumenischen Gottesdienst am Aschermittwoch. Danach servierten wir Gerstensuppe. Die Mesmerin tat Speck in die Suppe. Für die Katholiken war das ein Affront, sie assen nichts. Und natürlich musste ich als Zürcher viele Sprüche anhören zum Senf, den ich immer dazu gebe. Zur St. Galler Bratwurst ist Senf ja streng verboten.
Der Zürcher Reformator Zwingli ass 1522 keine Wurst und gab erst später seinen Senf dazu. Verliess ihn beim Wurstessen der Mut?
Sigrist: Zwingli war ein schlauer Fuchs, ein Politiker. Hätte er von der Wurst gegessen, hätte er sich ins Abseits manövriert. Mit seiner Präsenz duldete er den Fastenbruch zwar, verstiess selbst aber gegen kein Gesetz. Zwei Wochen später konnte er aus der Position der Unabhängigkeit heraus den Fastenbruch von der Kanzel im Grossmünster herab verteidigen. Damit provozierte er nicht nur den Bischof von Konstanz, er musste sich auch vor dem Zürcher Rat rechtfertigen, der für die Einhaltung der Fastengesetze zuständig war. Zwingli überzeugte den Rat. Für den Reformator war das Wurstessen eine Inszenierung, die zeigte, wie religiös begründete Regeln durch die Macht der Kirche instrumentalisiert und im Alltag ohnehin unterlaufen wurden. Vom Bischof forderte er, auch gleich den Zölibat für Priester abzuschaffen.
Flammer: Das Wurstessen machte nur öffentlich, was im Verborgenen schon längst üblich war. Kranke waren von den strengen Fastenregeln ausgenommen. Ein Historiker aus Österreich hat in seiner Dissertation aufgezeigt, dass sich bis zu achtzig Prozent der Leute krank meldeten während der Fastenzeit. Lange Zeit waren ja sogar Milchprodukte und Eier verboten.
«Wie meine Werke interpretiert werden, will ich nicht beeinflussen. Die Zweckfreiheit ist mir wichtig.»
Esther Schena, Künstlerin
In der Fastenzeit wurden alle Menschen zu Veganern?
Flammer: Sie sollten es zumindest. Aber es gab viele Ausnahmen. Die Kirche verkaufte Butterbriefe. Damit konnten sich Städte vom Fastengebot freikaufen und mit Milchprodukten handeln. Der Petersdom in Rom wurde mit dem Verkauf der Butterbriefe finanziert. Zugleich waren die Leute extrem kreativ, um Fastenregeln aufzuweichen. Fisch war ja ohnehin vom Verbot ausgenommen. Benediktinermönche behaupteten sogar, dass eine bestimmte Gans einer Muschel entspringe und verzehrt werden dürfe.
Sigrist: Auch der Zölibat war eine Farce. Sogar Päpste hatten Kinder. Das Wurstessen war der geplante Coup, mit dem die ganze Doppelmoral der Kirche offensichtlich wurde. Insofern war Zwingli ein Künstler.
Schena: Vielleicht nutzte er mit dem inszenierten Wurstessen die Mittel der Kunst. Doch er zielte ganz klar auf eine politische Wirkung ab. Als Künstlerin entwickle ich ein Werk durch Recherchen und Materialproben im Prozess, bis mich das Werk im Ausdruck wie auch ästhetisch überzeugt. Wie meine Werke dann interpretiert werden, kann und will ich nicht beeinflussen. Die Zweckfreiheit ist mir wichtig.
War das Wurstessen auch aus katholischer Sicht nötig?
Gassmann: Es war eine Provokation, die zur Kirchenspaltung führte. Ich glaube, es hätte auch Wege gegeben, die Kirche von innen heraus zu erneuern. Wir sollten gemeinsam in einem Prozess Veränderungen erwirken, statt den Hammer der Provokation hervorzuholen.
Wie fasten Sie im Kloster?
Gassmann: Benedikt hat ein eigenes Kapitel über das Fasten geschrieben. Für ihn geht es in dieser Zeit darum, das zu üben, was man sonst über das Jahr vernachlässigt, um ein Mehr an Leben zu gewinnen. Fasten soll nicht im stillen Kämmerlein passieren, sondern mit Gottes Segen und Verbindlichkeit. Darum legen die Schwestern ihre Fastenübungen der Priorin vor.
«Zwinglis Provokation führte zur Spaltung. Wir sollten die Kirche aber von innen heraus erneuern.»
Irene Gassmann, Priorin des Klosters Fahr
Der Speiseplan ändert sich nicht?
Gassmann: Nein. Es gibt in der Fastenzeit einfach an zwei Abenden Suppe. Wir essen ohnehin nur drei Mal in der Woche Fleisch. Für die Fastenzeit nimmt sich eine Schwester zum Beispiel vor, achtsamer mit einem Mitmenschen umzugehen, dem sie gerne aus dem Weg geht. Ich verzichte oft auf Schokolade, weil ich sie so gerne mag. Ich habe die Erfahrung gemacht, wie gross die Vorfreude auf das erste Praliné ist. Einmal verordnete ich den Schwestern in der Fastenzeit einen freien Samstagnachmittag. Einige gingen spazieren, andere sassen beim Kaffee zusammen. Das löste so viel aus, dass der freie Nachmittag nun zu unserem Alltag gehört.
So macht das Fasten Spass.
Flammer: Fastenregeln sind sinnvoll, wenn sie nicht dogmatisch angewendet werden. Sie geben durch das Jahr den Rhythmus vor. Im Herbst wurde geschlachtet, zur Fastenzeit war kaum noch Fleisch da. Durch den Wegfall dieser Rituale ging viel verloren. Wir haben kaum noch ein Gefühl für Saisonalität.
Gassmann: Das Fasten darf durchaus Spass machen. Benedikt schreibt, dass die Freude im Zentrum steht. Natürlich auch die Vorfreude auf Ostern, wenn die Passionszeit zu Ende geht und wir die Auferstehung Jesu Christi feiern.
Welche Rolle spielt das Fasten oder der Verzicht in der Kunst?
Schena: Verzicht ist immer Teil der Kunst. Ich verzichte auf einiges, damit ich meinen Beruf ausüben kann. So bedeutet Kunst, auf Regelmässigkeit im Leben zu verzichten, nicht zuletzt beim Einkommen.
«Das Rind zerteilen kann der Lehrling. Die Wurst aber macht ein stolzer Metzger immer selbst.»
Dominik Flammer, Autor und Kulinarikexperte
Hätte die Kirche auch heute wieder ein Wurstessen nötig?
Sigrist: Sicher nicht, um sich von der anderen Konfession abzugrenzen. Wir sind uns extrem nahe. Die Kirche muss das Wort ergreifen, wenn politische oder soziale Entwicklungen dem Evangelium widersprechen. Und da ist die Provokation durchaus ein legitimes Mittel.
Gassmann: Für mich wäre ein modernes Wurstessen, wenn beide Kirchen ihre Mitglieder dazu motivieren würden, eine Woche lang zu fasten. Das Fasten kennen wir ja fast nur noch vom muslimischen Ramadan her. Aber es ist auch eine christliche Tradition. Die Reformierten müssten vielleicht über ihren Schatten springen.
Sigrist: Überhaupt nicht. Es gibt viele Fastengruppen in der reformierten Kirche. Aber ich würde noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Zürich verzichtet. Das ist in der Bankenstadt doch eine ungeheure Provokation. Verzichten sollten wir auf die Gier oder auf die Bilder, die wir uns von anderen Menschen machen. Ein solches Programm könnten alle Religionen unterschreiben.
Flammer: Mich stört dieser religiösunterfütterte Kulturpessimismus. Verzicht ist doch Blödsinn. Ich nehme ein Beispiel: Ein Vegetarier fährt ein Dieselauto und hört im Radio von den Abgastests mit Affen. Er müsste gleich anhalten und aussteigen. Aufrufe zum Verzicht bringen die Menschen nur ins Dilemma.
Dann doch lieber eine Wurst essen?
Flammer: Zwischendurch auf Würste verzichten, kann durchaus sinnvoll sein. Von einem kompletten Verzicht halte ich nichts.
Gassmann: In der Wurst ist Fleisch, das sonst nicht verwendet werden könnte. Dass weniger Essen weggeworfen wird, müsste auch auf die Liste unserer Fastenaktion.
Flammer: Wobei früher viel mehr Resten verwendet wurden. Heute ist nicht einmal mehr in der Berner Zungenwurst wirklich Zunge drin. Stattdessen wird Braten verwendet.
Schena: Wichtig finde ich, dass sich das Fasten nicht auf den Verzicht auf Essen beschränkt. Essen ist etwas Zentrales, es verbindet.
Sigrist: Den hier propagierten Verzicht kann natürlich niemand verordnen, er muss freiwillig erfolgen.
Womit wir wieder bei Zwinglis Kritik am Fastengebot sind.
Sigrist: Genau. Zwingli wehrte sich nur gegen den Zwang, den Kirche und Staat ausübten. Alle Christen sollten die Freiheit haben, zu fasten oder eben nicht. Wir würden mit unserem Aufruf keinen Zwang ausüben, aber bewusst machen, dass wir Verzicht in einer Gesellschaft, in der fast alles möglich geworden ist, nötiger haben denn je. Verzicht bedeutet heute oft Freiheit.
Flammer: Mir bleibt der Aufruf zum bewussten Genuss sympathischer.
Der ist jetzt aber auch nur ein Schlagwort.
Flammer: Ich kaufe nur Fleisch, das von biologischen Höfen stammt. Wenn ich die Ernährung nach der Saison richte und regionale Produkte verwende, esse ich ganz ohne Verzicht gesund und abwechslungsreich. Das meine ich damit.
Gassmann: Bewusst leben – genau das ist für mich benediktinisch.
Flammer: Auch bewusste Völlerei kann glücklich machen.