Schwerpunkt 16. März 2021, von Delf Bucher

Der lange Weg zur Wahlheimat Schweiz

Geschichte

Lange war das Grenzland zwischen Konstanz und Kreuzlingen die Heimat von «reformiert.»-Redaktor Delf Bucher. Nun taucht er ein in die wechselvolle Geschichte der Landschaft.

Nach 41 Jahren kehre ich zurück zum Schlösschen Wolfsberg oberhalb von Ermatingen. Von hier fällt der Blick auf den blau schimmernden Untersee, malerisch eingehegt vom Schilfwald vor der Insel Reichenau. Die Basilika St. Georg in Oberzell mit ihrem Zipfelmützendach auf dem gedrungenen roma­ni­schen Kirchturm stammt aus dem 9. Jahrhundert. Eine Landschaft, die Heimatgefühle auslöst.

Heimatgefühle? Als 24-Jähriger wäre mir das nie in den Sinn gekommen, von Heimat zu sprechen. Für mich hing am Begriff zu viel ideologischer Ballast, zu viel deutsche Geschichte. Die Schweiz als Wahlheimat? Damals kaum denkbar. Mein Kopf war damals angefüllt von einer Masse an Urteilen und Vorurteilen über die Eidgenossenschaft.

Von Ovomaltine bis Omega

Allein schon das Schild gegenüber meinem Wohnsitz in Ermatingen lud zu Gedankenspielen ein: «Privat­weg – Unberechtigten ist das Betreten der Strasse bei Fr. 20.– Busse verboten, dem Anzeiger die Hälfte.» Denunziantentum, Disziplin und Ord­nung: Die vereinigten preussischen Sekundärtugenden hatten sich hier, ungebrochen durch eine historische Zäsur, besser als in Deutschland erhalten.

Vor 41 Jahren rotierte das Karus­sell der Gemeinplätze auf voller Um­­­drehungszahl. Klischees reihten sich aneinander: Ovomaltine, Offiziersmesser und Omega, Heidi, Hornussen und Handörgeler, Matterhorn, Migros und Militär. Und natürlich die Bankenwelt, die auf dem Schloss Wolfsberg, dem Ausbildungszentrum der Schweizerischen Bankgesellschaft, so wunderbar zu greifen war. Bis heute assoziieren viele Deutsche beim Stichwort Schweiz Zürcher Gno­me und Nummernkonten, illegale Spenden deutscher Parteien, die über Schweizer Banken reingewaschen werden.

Aber das Dorf Ermatingen gefiel mir. Es lieferte dem Geschichts- und Literaturstudenten ein schönes Dekor. Die Riegelhäuser mit überhängenden Stockwerken und die verwinkelten Gassen im Fischerdorf mit seinen idyllischen Holzbooten entlang der Uferzone, das war ein Sprung zurück ins Vorvorgestern. Ganz gut passt zu den Eindrücken ein Zitat von Thomas Mann aus dem Roman «Dok­tor Faustus»: «Aber in der Luft war etwas hängengeblieben von der Ver­fassung des Menschengemüts in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhun­derts.»

Nur war ich dem «Menschengemüt» der Thurgauer keineswegs auf die Spur gekommen. Es war eine menschenleere Landschaft, ohne so­ziale Berührungspunkte. Einmal im Jahr zur Erneuerung des Grenzgängerstatus ging es zur Einwohner­kontrolle. Beinahe täglich rief ich den Zöllnern auf meinem Heimweg von Konstanz am Gottlieber Zoll zu: «Nüüt derbii!» Das war eine von meinem Lörracher Wohngemeinschaftsgspänli abgelauschte Kurzformel. Und einmal die Woche ein kurzes Einkaufsgespräch an der Kä­setheke mit der Frau des Käsers, bei der ich Appenzeller und Greyerzer kaufte. Sonst wurden alle Lebensmittel für den studentischen WG-Haushalt in Konstanz besorgt.

Idylle und Isolation

Genauso wie der Engländer Esquire George Treherne Thomas, der in Er­matingen seine botanischen Hobbys inmitten dieser lieblichen Landschaft pflegte, wohnte auch ich in einer Art «splendid isolation».

Der reiche Brite hatte das Schloss Hard 1848 erworben. In einem Treib­haus züchtete er seltene Pflanzen aus Britisch-Guayana. Schloss Hard lautete auch meine Wohnadresse. Freilich war unsere Wohngemeinschaft nur im herrschaftlichen Nebengebäude untergebracht. Nach drei Jahren rückten an einem Nebel­tag Soldaten an, um mit Pioniergerät das verlotterte Schloss dem Erdboden gleichzumachen.

Ein Schloss abräumen zu lassen, das zumindest von seinen Grundmauern her noch ganz passabel dasteht, wäre in Deutschland schwer vorstellbar. Ganz anders am Seerücken, auf dem sich die Schlösser und Herrensitze wie an einer Perlenschnur aufreihen. Auf ein Juwel mehr oder weniger kommt es nicht an. Vom Krieg unversehrt wartet die Schweiz trotz solcher Sünden mit idyllischen Bilderbuchdörfern und historischen Stadtbildern auf.

Sicher im Schatten der Schweiz

Auch Konstanz ist mit seiner gut erhaltenen Altstadt ein Touristenmagnet. Solange die Schweiz verdunkelte, war Konstanz mit von der Partie, als 1944 die Schweiz wieder die Städte beleuchtete, gingen nachts in Konstanz die Lichter an. Für die Piloten war es unmöglich, den Grenzverlauf auszumachen.

Unauslöschlich haben sich die Spuren des Kriegs hingegen in die idyllische Seelandschaft eingefräst. Oft bin ich am betonierten Bunker von Triboltingen vorbeigeradelt, oft bei Spaziergängen auf dem Seerücken auf Spanische Reiter und Stacheldrahtverhaue gestossen.

Selbst meine Kinder mit ihren Schweizer und deutschen Wurzeln sind schon beinahe gezwungen, sich mit den familiären Geschichten von Bombennächten, Kriegerwitwen und verfolgten Juden auseinanderzusetzen.

Der Krieg macht den grossen Unterschied zwischen den Deutschen und den Schweizern. Selbst meine Kinder mit ihren Schweizer und deut­schen Wurzeln sind beinahe ge­zwungen, sich mit den familiären Ge­schichten von Bombennächten, Kriegerwitwen und verfolgten Juden auseinanderzusetzen.

Diese Differenz wurde mir in ihrer ganzen Tragweite erst bewusst, als ich mich endlich nach dem Studium aus meiner Universitätsblase heraus­bewegte und als Redaktor bei der «Thur­gauer Zeitung» die Menschenlandschaft Schweiz entdeckte. Eine Psychologin aus Weinfelden erzählte mir, dass sie wesentlich mehr Kleenex-Tücher zum Tränentrocknen benötigt, wenn deut­sche Paare in die Beratung kommen. Immer wieder schimmere das grosse Trauma des Kriegs in den Biografien der Nachgeborenen durch.

Schnell war mir klar: Um mit den Schweizern mehr als steife Gespräche zu führen, brauche ich den Dialekt als Eintrittsbillett. So reicherte ich mein Schwäbisch mit Schweizer Mundart an. Nun liess es sich gut parlieren mit den letzten Heimstickern, Brauchtumssattlern, Käsern und Biobauern. Ich beobachtete stolze Saurer-Mitarbeiter, wie sie alte Cars und Camions restaurierten, verfolgte den Jubel in den Beizen, wenn zum Zmittag während der Ski-WM der Fernseher mitten in der Wirtsstube aufgebaut war.

Kuhschweizer und Sauschwoben

Die Schweiz war doch noch zu meiner Wahlheimat geworden. Damit erwachte mein Interesse an der vertrackten Geschichte des Kleinstaats. Plötzlich war der Idyllenort Gottlieben mehr als Butzenschei­ben­romantik. Wenn ich am Schloss vorbeiflanierte, regten sich Bilder vom Konstanzer Konzil in meinem Kopf. Der verhaftete Gegenpapst Jo­hannes XXIII. hatte im Turm des Gottlieber Schlosses geschmachtet.

Selbst die hintergründige Geschichte des Wörtchens «Sauschwob», das ich manchmal zu hören bekam, erschloss sich mir als eine historische Reminiszenz. Sein Ursprung liegt im Spätmittelalter, als sich die Innerschweizer daranmachten, den von Konstanz beherrschten Thurgau zu unterwerfen. Die städtischen Konstanzer titulierten abfällig die bäurischen Kraftprotze aus der Innerschweiz als Kuhschweizer.

So unschuldig das Wort klingt, schwingt Deftiges mit: der Kuhplap­pert, einer, der es im Stall mit dem Vieh trieb. Die Retourkutsche, so hat es der Konstanzer Stadtarchivar Helmut Maurer aufgrund zahlreicher Quellen nachweisen können, war dann der Sauschwob.

Reformierter Brückenschlag

Die Reformation hat nochmals für eine kurze Zeitspanne den seealemannischen Brückenschlag ermöglicht. Der neue Glaube, wie ihn der Konstanzer Theologe Ambrosius Bla­rer, Weggefährte Zwinglis, predigte, strahlte in den Thurgau aus.

Aber die spanischen Truppen der Habsburger zwangen die Konstanzer wieder in die katholische Messe. Mit der harten Konfessionsgrenze zwischen dem mehrheitlich reformierten Thurgau und der katholischen Bischofsstadt Konstanz verfestigte sich auf beiden Seiten das Bewusstsein des Andersseins.

Bei meinem Besuch Anfang März erwartete mich eine Überraschung. Am Hauptzoll zwischen Konstanz und Kreuzlingen, wo früher Tausen­de von Autos die Grenze querte, stehen heute Schautafeln und erzählen davon, dass zwischen Kon­stanz und Kreuzlingen lange Zeit vieles grenzenlos war: wie die Feuerwehren zusammenspannten, wie Kreuzlinger in der Konstanzer Regimentskapelle spielten und Tag für Tag unzählige Deutsche in die Kreuz­linger Fabriken pendelten.

Erst der Erste Weltkrieg brachte Schlagbäume und Kontrollen. Sie kehrten in der Pandemie unerwartet zurück, als sich während des Lockdowns im Frühling vor einem Jahr durch die Grenze getrennte Lie­bespaare an den Zaun setzten, um sich wenigstens zu sehen.

Zwing­li statt Luther: Das war mein erster Schritt zur Beheimatung.

Dazwischen hatte bereits der Zwei­te Weltkrieg der Durchlässigkeit ein jähes Ende gesetzt. 1938 drängte der Bundesrat darauf, den «widernatürlichen Grenzverlauf» mitten durch das dicht besiedelte Gebiet mit einem Zaun zu schützen. Der Bezirksstatthalter Otto Raggen­bass machte kein Geheimnis daraus, dass ein hartes Grenzregime «Land und Volk vor den ernsthaf­ten Gefahren der Überfremdung und der antisemitischen Bewegung» schüt­zen solle. Seine abgründige Logik war also, Juden die Flucht zu verunmöglichen, um die Schweiz vor antisemitischen Aufwallungen zu schützen.

Zaun überlebt den Mauerfall

Der Zaun blieb auch nach dem Krieg. Niemand wollte daran rühren, bis 1989 in Berlin die Mauer fiel. Plötzlich war der Zaun auf deutscher Seite eine «städtebauliche Alt­last». Nicht so in Kreuzlingen mit dem Emp­fangszentrum für Asylsu­chende. Radikal forderte ein Le­serbriefschreiber im «Thurgauer Volks­freund»: «Um Gottes willen, lasst den Grenzzaun stehen! Im Gegenteil – man sollte ihn noch unter Strom stellen.»

Es gab auch andere Stimmen. Beispielsweise engagierte sich Paul Rutishauser für die Geflüchteten. Der Pfarrer mit der unaufgeregten Rhetorik und dem distinguierten Stil beeindruckte mich nicht nur we­gen seines Engagements für die Flüchtlinge, sondern auch wegen seines unermüdlichen Einsatzes für Südafrika. Er schenkte mir Walter Hollenwegers Biografie über Zwing­li und machte mich erstmals neugierig auf die so andere Reformation in der Schweiz.

Ans Herz gewachsen

Plötzlich entdeckte ich, wie verwoben die Reformation süddeutscher Reichsstädte mit der Reformation in Zürich war, wie von der scheinbar provinziellen Schweiz der Impuls für einen grenzüberschreitenden religiösen Aufbruch ausging. Schliesslich zählt die globale Religionsstatistik mehr Reformierte als Lutheraner.

Als 1996 die Fremdenpolizei mir den Jahresaufenthalt zubilligte, fiel es mir leicht, bei der Einwohnerkontrolle von Siegershausen auf die Frage nach meiner Konfession zu antworten: «Reformiert.» Zwing­li statt Luther: Das war mein erster Schritt zur Beheimatung. Die Schweiz war nun mehr als Schoggi­paradies und Bankenplatz wie anno 1980. Die Schweiz fing an, mir ans Herz zu wachsen.

Ein Geschichtenerzähler nimmt Abschied

Mit diesem Artikel verabschiedet sich Delf Bucher von der Leserschaft von «reformiert.». Der Journalist arbeitete 18 Jahre lang für diese Zeitung und wurde Ende Februar pensioniert. Die Redaktion verdankt Delf Bucher viel.

In seinen Artikeln schrieb der studierte Historiker oft gegen die Geschichtsvergessenheit an. Zudem baute er durch Reisen nach Hongkong oder in den Irak ein weltweites Netzwerk auf. Immer wieder beleuchtete er die Lage bedrängter und verfolgter Christen und deckte auch hier historische Zu­sam­menhänge auf. Seine Reportagen waren von menschlicher Anteilnahme und gleichzeitiger jour­nalis­tischer Distanz geprägt.

Mit seiner menschenfreundlichen Art und seinem Ideenreichtum hat Bucher «reformiert.» bereichert.