Kann Narzissmus Sünde sein?

Narzissmus

Warum der Mensch ohne narzisstische Neigung weder leben noch lieben kann. Und warum sich Philosoph Ludwig Hasler über gelangweilte Schmalspurnarzissten ärgert.

Der Papst tut es. Die Popsängerin tut es. Der Fussballer tut es.

Und auch wir können es nicht lassen: Selfies. Die Schreibenden rücken sich selbst ins Bild zusammen mit ihren Gesprächspartnerinnen. Aber sind die schnellen Selbstporträts wirklich Indiz genug für den Narzissmus, der unserer Gesellschaft so gerne unterstellt wird? Oder waren die Menschen früher mindestens so narzisstisch? Ihre Fotokamera war halt weniger handlich und auch das Facebook-Profil fehlte, um das Selbstbild sogleich zu verbreiten.

Mit solchen Fragen machte sich «reformiert.» auf, um die kulturpessimistische Pauschalkritik zu entkräften und Spuren eines womöglich grassierenden Narzissmus freizulegen. Der Narzisst passt ja tatsächlich perfekt in die Leistungsgesellschaft: Er kompensiert mangelnde Zuneigung durch Applaus für seine Erfolge. Und er ist ein guter Konsument, weil Schönheit und Besitz Anerkennung versprechen.

Nur: Ohne Narzissmus geht es nicht. Wir brauchen Menschen, die sich exponieren, Verantwortung übernehmen. Ohne Liebe zu sich selbst ist Nächstenliebe unmöglich. Als Kriterium, wann der Narzissmus überhandnimmt und in rücksichtslose Beziehungsunfähigkeit zu kippen droht, taugt vielleicht der Witz. Wer über sich selber lachen kann und auch seine Umwelt nicht so furchtbar ernst nimmt, hat gute Chancen auf einen gesunden Narzissmus.

Zwischen Grössenwahn und Kunst

Der Begriff «Narzissmus» geht zurück auf eine Gestalt der altgriechischen Mythologie. Die Geschichte von Narkissos, zu Deutsch Narziss, handelt von einem jungen, schönen Halbgott, der alle Verehrerinnen und Verehrer herzlos abwies. Daraufhin strafte die Rachegöttin Nemesis den Stolzen mit unheilbarer Selbstliebe. Er verliebte sich bei einer einsamen Quelle in sein Spiegelbild und ertrank. Sein Leichnam verwandelte sich in eine Blume, die Urmutter aller Narzissen.

Freud. Wie so viele Mythen steht auch diese Geschichte für psychologische Zusammenhänge. Sigmund Freud etwa, der Vater der Psychoanalyse, sah das Phänomen der übersteigerten Selbstliebe zuerst als Teil der normalen menschlichen Entwicklung an. Später jedoch beschrieb er den narzisstischen Charaktertypus, der auf Kritik, Kränkung oder Nichtbeachtung aggressiv reagiert.

Macht. Von einer eigentlichen Krankheit reden die Psychiater erst in den 1960er-Jahren. Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung haben ein überstei­gertes Selbstwertgefühl, fantasieren von Macht und Erfolg, brauchen Bewunderung, können sich schlecht in andere einfühlen und gebärden sich oft arrogant. Chronisch Kriminelle sind auffallend häufig narzisstisch veranlagt; das Umgekehrte gilt jedoch nicht.

Narzissmus kann ganze Epochen prägen. Als gesellschaftliche Grundstimmung kannte das Mittelalter dieses Phänomen noch nicht. Der Mensch kümmerte sich um sein Seelenheil, indem er sich dem vorherrschenden Frömmigkeits- und Sittenideal unterwarf. Erst in der Renaissance trat das Individuum aus dem Kollektiv heraus; die Besonderheit, Klugheit und Schönheit des Menschen wurden in geradezu narzisstischer Manier gefeiert.

Kunst. In ebendieser Zeit entdeckten selbstbewusste Künstler das Selbstporträt. Solche Darstellungen wären im Mittelalter als sündhafte Überheblichkeit taxiert worden – was heute, im SelfieZeitalter, kaum mehr nachvollziehbar ist. HEB

Zwischen Selbstliebe und Sünde

«Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Dieses Jesuswort geht davon aus, dass jeder Mensch eine gesunde Selbstbejahung in sich trägt, die ihm als Referenzwert für die Nächstenliebe dient und mitmenschliches Handeln überhaupt erst möglich macht. Kippt die Eigenliebe aber ins Selbstversessene, wird sie krankhaft und somit narzisstisch.

Hochmut. Der Begriff «Narzissmus» ist in der christlichen Tradition nicht bekannt. Ersetzt man ihn aber durch Hochmut, wird er theologisch relevant, denn Hochmut und Stolz sind nach biblischem Verständnis der Ursprung der Sünde. Der Apostel Paulus mahnt: «Denn wer meint, etwas zu sein, obwohl er nichts ist, der betrügt sich» (Gal. 6. 3).

Zentral ist dabei die Frage nach der Rechtfertigung des Menschen. Nach christlichem Verständnis liegt sie allein in Gottes Hand. Stellt der Mensch die Ordnung auf den Kopf und erhebt sich in gleichsam narzisstischer Manier selbst zum Gott, schlittert er damit unweigerlich ins Verderben.

Gnade. Als «incurvatus in se», verkrümmt in sich selbst, bezeichnete der Kirchenvater Augustin den von Gott abgewandten Menschen, und auch der Reformator Martin Luther lehrte, dass die menschliche Natur «auf sich selbst hin verkrümmt» sei und sich so der göttlichen Gnade verschliesse. Nach Luther besteht die Verderbtheit des Menschen darin, dass er sich selbst anbeten wolle. Deutlicher kann man das Wesen des Narzissmus nicht umreissen – wenn Luther dafür auch deftigere Begriffe verwendete. Er bezeichnete den selbstverliebten Menschen als «fleischverhaftet», seine Verderbtheit als «totale Perversion».

Werte. Heute geht es bei der Auseinandersetzung der Theologie mit der menschlichen Selbstbezogenheit nicht mehr primär um das Heil des Einzelnen. Vielmehr um die Frage, welche Werte die Kirchen einer narzisstisch geprägten Gesellschaft entgegenzusetzen haben – einer Gesellschaft, in der die Selbstinszenierung des Individuums zur Norm geworden ist. HEB