«Der Narzisst bekommt nie, was er wirklich braucht»

Narzissmus

Selbst-Sorge braucht es, zu viel kann zur Selbstausbeutung führen, sagt Isabelle Noth im Interview. Aber der Glaube könne vieles relativieren.

Isabelle Noth, 48

Isabelle Noth ist Professorin für Seelsorge, Religionspsy­chologie und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Und sie ist Initiantin des neuen CAS Studien­gangs «Spiritual Care» an der Uni Bern. Zusammen mit Claudia Kohli Reichenbach hat sie das Buch «Palliative und Spiritual Care» herausgegeben. (TVZ-Verlag, Zürich 2014)

Sie haben eben Ihr erstes Selfie gemacht. Wie haben Sie sich gefühlt? Isabelle Noth: Ziemlich unwohl. Ich fragte mich andauernd: Was mache ich da? Kann ich auch nachträglich dazu stehen? Es mag ganz amüsant sein, mal aus dem bekannten Habitus auszubrechen, aber es kostete mich Überwindung. 

Dann sind Sie froh, ist dieser Teil unseres Treffens jetzt vorbei?

Allerdings! Als Wissenschaftlerin zu sprechen, fällt mir wesentlich leichter, als Selfies zu schiessen.

Wie verwenden Sie als Religionspyschologin und Theologin den Begriff Narzissmus?

In den Klassifikationssystemen psychischer Störungen werden verschiedene Symptome erwähnt. Zu ihnen zählen unter anderen Grandiosität, mangelndes Einfühlungsvermögen, übersteigertes Ich-Gefühl und hohe Kränkbarkeit. Spannend finde ich aber, dass heute viel stärker die sogenannten relationalen Theorien im Vordergrund stehen. Diese stellen die Beziehungsaspekte ins Zentrum und fragen nach den Qualitäten in den Beziehungen.

Inwiefern beeinflusst dieses psychologische Wissen Ihre Arbeit als Seelsorgerin?

Solche Zuschreibungen haben etwas Einengendes, Normatives und ziehen eine zu klare Grenze zwischen krank und gesund. Als Seelsorgerinnen interessieren wir uns weniger für Diagnosen und Etikettierungen. Das ist eine grosse Entlastung und ermöglicht andere Beziehungsqualitäten. Wir können zuhören, aufnehmen, mitgehen und die Menschen wahrnehmen, ohne uns auf psychische Defizite fokussieren zu müssen.

Was ist der Nährboden für Narzissmus?

Grundsätzlich kann man sagen: Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entsteht, wenn man in der frühen Beziehungserfahrung nicht bekommt, was man braucht. Ein Kind, das nicht angemessen Aufmerksamkeit und Liebe bekommt, das nicht als das, was es ist, gesehen wird, entwickelt Frustrationen. Also muss es Strategien finden, um sich die fehlende Zuwendung anderweitig zu holen: durch Leistung, durch Macht, durch Überanpassung. Aber das entstandene Defizit kann durch Bewunderung und Applaus nicht wettgemacht werden.

Ein bisschen leiden wir wohl alle unter diesem psychischen Mangel. Sind wir also auch alle mehr oder weniger narzisstisch?

Natürlich! Und das ist gar nicht nur negativ. Im Alltag wird der Begriff Narzissmus meist abwertend verwendet, dabei sind narzisstische Persönlichkeitsanteile durchaus nötig und sinnvoll. Wir kommen gar nicht ohne sie aus. Die Selbstliebe ist sozusagen Voraussetzung für die Liebe zum Andern. Der Umgang mit sich selber prägt denjenigen mit dem Gegenüber. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», besser kann man es kaum sagen. In der Seelsorge gibt es den treffenden Satz: Seelsorge ist auch Selbst-Sorge. Nur wer mit sich sorgsam und liebevoll umgeht, kann es auch mit anderen.

Welche Art von Selbst-Sorge ist sinnvoll?

Menschen mit einer narzisstischen Störung haben die Tendenz, sich selber zu immer neuen Höchstleistungen anzutreiben. Diese Selbstausbeutung kann zu grosser Erschöpfung führen. Es ist unumgänglich, den zerstörerischen Kreislauf zu erkennen und weniger destruktive Umgangsformen mit sich selber zu entwickeln.

Studien zeigen: Jüngere Menschen sind narzisstischer als ältere. Wächst sich Narzissmus aus?

Tendenziell ja. Ältere Menschen sind weniger auf die Bestätigung von aussen angewiesen. Sie wissen, was ihnen gut tut, und definieren sich nicht mehr primär über die Leistung. Das nährt die Seele, und der Narzissmus wird zunehmend obsolet. Natürlich gibt es auch pro­minente Gegenbeispiele. In der Presse kann man von gewissen machtbesessenen älteren Herren lesen, wie etwa dem langjährigen Fifa-Präsidenten, der nun seinen Rücktritt angekündigt hat. Da weiss ich manchmal nicht so recht, ob ich mich ärgern soll, oder ob sie mir einfach leidtun.

Viele tun sich schwer mit der abnehmenden Autonomie im Alter. Wir haben Angst vor dem eigenen Zerfall. Wagen Sie die These, dass die geforderte Selbstbestimmung bis zum Tod eine Form des Narzissmus ist?

Das kann man so interpretieren. Der Narzisst ist ja überzeugt, dass er das, was er wirklich braucht, nicht bekommt: menschliche Wärme und Anerkennung. Er strengt sich an, erbringt Leistung für Anerkennung, und wenn er das nicht mehr kann, droht eine andere Art von Abhängigkeit. Im christlichen Glauben gehen wir davon aus, dass einem das, worauf es letztlich ankommt, nur geschenkt werden kann, man kann es nicht ergreifen. Somit ist der Verlust von Selbstbestimmung eigentlich auch eine Einladung, sich etwas schenken zu lassen. Eine schwierige Aufgabe für Narzissten.

Das heisst also narzisstisch bis in den Tod?

Beim assistierten Suizid geht es nicht nur um die Sterbenden, auch die Angehörigen und die Gesellschaft spielen eine Rolle. Für sie kann der selbst gewählte Tod eine Art Misstrauensvotum sein: Man traut ihnen die verantwortungsvolle Betreuung und Begleitung nicht zu. Da entstehen viele Probleme.

Sie lehnen den begleiteten Suizid grundsätzlich ab?

Es gibt Situationen, in denen es nachvollziehbar ist, dass sich jemand dafür entscheidet. Ich finde lediglich, man sollte sich nicht zu schnell der Chance berauben, die letzte Phase des Lebens zu durchleben. Natürlich können jahrelanges Leiden und Pflegen eine grosse Belastung sein, das will ich auf keinen Fall bagatellisieren. Es kann aber ebenso ein Hineinwachsen sein in ein Grundgefühl von: Ich bin aufgehoben und werde geliebt. Und zwar jenseits allen Tuns und aller Bedingungen und Normen.

Der Glaube als Mittel gegen Narzissmus?

In gewisser Weise schon. Ich erlebe immer wieder, dass der Glaube vieles relativiert, dass die Beziehung zu Gott deutlich macht, dass wir nicht für alles und jedes selber verantwortlich sind. Unsere Geburt und unseren Tod müssen wir nicht selber gestalten. Und das ist gut so.