Schwerpunkt 24. Juni 2015, von Ludwig Hasler

«Narziss ist harmlos geworden und hängt im Ermüdungsmodus»

Narzissmus

Ich, ich, ich, immer nur ich: Da liegt die Narzissmus-Falle. Das Ich lässt nur noch gelten, was es kennt und was ihm gefällt. Es langweilt sich an sich selbst.

Ob ich Narzissten mag? Nein. Ich mag Leute, die über die eigene Nase hinaussehen. Trotzdem finde ich, die Narzissmus-Keule sitzt zu locker – und weiss selten, welchen Narziss sie treffen soll. Vier Varianten zur Auswahl: Der mythische Narziss verliebt sich in sich selbst, stirbt an unerfüllter Ich-Zentriertheit und verwandelt sich in eine Blume (Ovid). Christlich wird Narziss zum Inbegriff irdischer Eitelkeit, zum Exempel einer Verkehrtheit, die glaubt, aus sich statt aus Gott leben zu können. Neuzeitlich wird Narziss zum romantischen Künstler (Novalis), der – enttäuscht von einer rational entzauberten Welt – die Wahrheit im Reich der Gefühle sucht. Heute zirkuliert Narziss als Spiesser (Ödön von Horvath), der sich für nichts als sein mickriges Glück interessiert.

Welcher Narzissmus verbindet die vier Typen? Und warum gilt er als Störung? Leidet der Narziss? Zum Psychiater geht keiner. Trotzdem führt jede fünfte Therapieakte den Vermerk «narzisstische Störung». Die Diagnose ist beliebt, auch umgangssprachlich («diese Nachbarin, total narzisstisch»), medial erst recht («Geissel des Narzissmus»), sie profitiert von ihrer Schwammigkeit, der zeitkritischen Pauschalität, dafür kriegt sie viele Likes. Was sie «narzisstisch» stempelt, das gilt als unkorrekt. Was genau ist unkorrekt am Narziss? Nach allerlei Lektüre stelle ich fest: Die Diagnose «Narzissmus» ist mehr moralischer Vorwurf als stichhaltiger Befund. Sie mischt gerne drei Symptome: Selbstbezogenheit, Egotrip, Hedo­nismus. Auch Vorwürfe können recht haben. Mal sehen.

Das Ich im Spiegel. Der Vorwurf Selbstbezogenheit hat etwas. Nur: Worauf sonst sollten wir bezogen sein? Anders als Schwalben und Steinböcke haben wir keinen harten Kern, der uns einfach drauflos leben lässt. «Der Mensch ist nicht, er hat zu sein» (Martin Heidegger): Wir müssen uns dauernd selbst erfinden, orientieren, mit uns verständigen, über Absichten, Motive, Allianzen. Dieser Selbstbezug ist das spezifisch menschliche Pensum. Die Frage ist: Was passiert in dieser Beziehung? Passiert überhaupt etwas, das ich nicht schon kannte? Oder nickt nur das Ich sich selbst zu? Das Problem ist die Verkümmerung des Ich im Spiegel, nicht die Spiegelung.

Der Selbstbezogenheits-Vorwurf sieht nicht die Geschichte des Ich. Über Jahrtausende war das menschliche Ich aufgehoben in ein übergeordnetes Drama zwischen Himmel und Hölle. Es spielte seine Rolle nie für sich, es spielte unter göttlicher Regie. Wird diese Regie nun vakant, fühlt sich das Ich kosmisch vereinsamt. Das kann narzisstische Störungen verursachen. Nicht, weil das Ich auf sich schaut, sondern weil es aus dem Stück gefallen ist, das seine Furcht und Hoffnung lenkte.

Zum Vorwurf des Egotrips. Übersteigertes Selbstbewusstsein. Mag sein, aber ist das schon pathologisch – oder eher nützlich? Gerade in Krisenzeiten profitieren wir von der Kaltblütigkeit des egozentrischen Typs, wie ihn etwa James Bond verkörpert: charmant, promisk, gewissenlos – und unbesiegbar. Auch bei Kampfpiloten, Chirurgen in Notaufnahmen, Strafverteidigern, Finanzexperten wünscht sich nicht primär Freundlichkeit und Empathie, wer deren Dienste benötigt. Selbst bei einer Firmengründung hilft es, pathologisch mindestens gestreift zu werden; so wird man furchtlos oder hält sich für grossartig. Es gibt in jeder Gesellschaft einen Bedarf an Risikolust und Geltungssucht, an mentaler Stärke und emotionaler Kälte. Sagt zumindest der Psychologe Kevin Dutton, Autor des Buches «Psychopathen. Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann». Typisch, dass der Egotrip-Vorwurf nur formal läuft. Er tadelt eine angeblich narzisstische Haltung (massives Selbstbewusstsein), fragt aber nicht, was gesellschaftlich herausschaut. So verflacht er zum moralisierenden Appell, jeder solle bescheiden und korrekt sein und das Salär transparent.

Selfie-Kult statt Ego-Exzess. Nun zum Vorwurf Hedonismus. Da ist immer etwas dran – allerdings: Momentan grassiert eher der Schontyp als der Hedonist. Wir sind Muster der Disziplin. Die Manager, Ärztinnen, Politiker, mit denen ich vor fünfzehn Jahren beim Mittagessen selbstverständlich Wein trank, in jeder Tagungspause Zigaretten rauchte, sind heute clean, praktisch alle. Trinken, Rauchen verrät nun den labilen Charakter, den kann sich keiner leisten. Je turbulenter die Zeiten, desto rigider die Selbstdisziplin, besonders bei Leuten mit Ambitionen. Stets fit, gesund, berechenbar. Hedonismus? Existenzielle Verschwendung an den Augenblick? Nicht mehr im Programm, ersetzt durch Genuss – mit Vernunft! Genuss ohne Leidenschaft und Kater, ohne Risiken und Nebenwirkungen. Der Hedonismus-Vorwurf übersieht: Wir nähern uns der libidinösen Schwundstufe, dem Schmalspur-Narzissmus. Narziss als Selbstschon-Typ. Statt Ego-Exzess: Selfie-Kult. Serielle Produktion von Selbstbildchen. Harmloser war nie ein Ich. Hedonistisch sieht wilder aus. Was ist mit einem Narziss los, der sich an eigenen Bildern festhalten muss?

Meine Vermutung: Der Narziss hängt im Ermüdungsmodus. Sieben von zehn Leuten hier fühlen sich «gestresst», vier von zehn gar «erschöpft». Jeder Siebte schluckt Psychopharmaka, jeder Zehnte braucht den Psychiater. Der Druck der globalisierten Wirtschaft? Eher der «Überdruss, sich dauernd selbst sein zu müssen» (Alain Ehrenburg). Scheitert der Narziss an sich selbst? Seit der Aufklärung gibt es die Pflicht zum Ichsein. Ich führe mein Leben. Ich denke. Ich handle. Ein wunderbarer Gedanke – mit einer Tendenz zur Bagatellisierung: dass das Ich nur noch gelten lässt, was es kennt, was ihm gefällt. Ich. Ich. Ich. Da liegt die Narzissmus-Falle.

Wie finden wir da hinaus? Schluss mit Selbstschonung. Nicht Arbeitsdruck macht uns fertig. Es ist die Bagatellisierung des Alltags. Der Mangel an Poesie, an Geist. Wir langweilen uns an uns selber – wo wir nicht teilnehmen an einem bedeutenderen Grösseren. Wie einst im Welttheater. Da war Intelligenz, Rausch, Askese nie Selbstzweck, eher Mittel, Gott näherkommen. Der Narzissmusfalle entkommt nur, wer in seiner Endlichkeit nicht allein bleibt. Wer mit etwas Göttlichem zusammenarbeitet. In sich. Ausser sich.

Ludwig Hasler, 70

studierte Physik und Philosophie, Germanistik, Altphilologie und Musik. Er lehrte an den Universitäten Bern und Zürich Philosophie und war zugleich Mitglied der Chefredaktion des «St. Galler Tagblatts» und bis 2001 der Zürcher «Weltwoche». Er arbeitet als freier Publizist, Vortragstourist und Kolumnist. 2010 veröffentlichte er das Buch «Des Pudels Fell. Neue Verführung zum Denken». Ludwig Hasler lebt in Zollikon.