Sie sind evangelischer Theologe. Fleischessen war für die Reformierten einst ein Akt der Freiheit. Zeit, die historische Symbolik der Wurst zu überdenken?
Bernd Kappes: Ich frage mal zurück: Wenn Reformierte heute Wurst essen, tun sie das noch als Ausdruck und Akt der Freiheit in Abgrenzung zu den Katholikinnen und Katholiken? Heute bringt den Verzehr einer Wurst niemand mehr mit der Reformation in Verbindung. Die neue Freiheit ist, kein Fleisch zu essen. Es ist Zeit, über die Selbstverständlichkeit, die das Fleischessen für viele noch ist, nachzudenken, auch aus theologischer Sicht.
In der Schöpfungsgeschichte heisst es doch ziemlich deutlich: «Macht euch die Erde untertan» (Gen 1,28).
In der Tat. Der Mensch soll über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alles Getier herrschen, heisst es weiter. Aus diesem sogenannten Herrschaftsauftrag wurde lange ein uneingeschränktes Nutzungsrecht an Tieren abgeleitet. Dabei wurde der Vers meist isoliert betrachtet. Bemerkenswert ist aber, dass unmittelbar darauf das Gebot einer vegetarisch-veganen Ernährung folgt.
Wie lautet dieses?
«Und Gott sprach: Siehe, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise» (Gen 1, 29). In der Vorstellung der Schöpfungserzählung soll sich der Mensch pflanzlich ernähren wie die Tiere. Das steht in Spannung zu dem, was lange unter «untertan machen» verstanden wurde. Manche Exegeten und Exegetinnen haben den Ausdruck geradezu als Aufruf zum Krieg gelesen, als brutales Niedertreten und Plattmachen.
Was ist Ihre Deutung?
Wenn auf «untertan machen und herrschen» unmittelbar das Gebot einer pflanzlichen Ernährung folgt, dann ist der «Herrschaftsauftrag» offensichtlich keine biblische Lizenz zum Töten! In Anlehnung an den Theologen Klaus Koch kann der Ausdruck auch das alltägliche Sorgen eines Hirten um seine Herde beschreiben. Das Wort «herrschen» verstehe ich daher als sich kümmern um die Tiere, Verantwortung für sie übernehmen, für Nahrung und Sicherheit sorgen. «Untertan machen» bedeutet in dieser Auslegung den Auftrag, das Land zu bearbeiten und zu bebauen. Es geht also um Ackerbau und Viehzucht, um eine theologische Reflexion der Sesshaftwerdung des Menschen.
Sind die Menschen somit aus christlicher Perspektive dazu verpflichtet, sich vegetarisch oder sogar vegan zu ernähren?
Die Frage ist ja: Was ist die Bibel für uns? Ich würde niemals biblizistisch argumentieren: Da steht es, deswegen gilt es für uns. Das mache ich an anderen Stellen ja auch nicht. Wir müssen uns aber mit den biblischen Texten auseinandersetzen und uns fragen, welche Impulse sie uns heute für unsere gesellschaftlichen Herausforderungen geben können. Dabei konfrontiert uns die erste Schöpfungserzählung mit der Vision einer gewaltfreien Welt und auch einer gewaltfreien Ernährung. Denn die Geschichten «vom Anfang» wollen ja nicht nur erzählen, wie die Welt mal war, sondern auch Orientierung geben, wie die Welt gedacht war, wie sie sein soll.
Obwohl es später in Genesis 9,3 heisst: «Alles, was sich regt und lebt, sei eure Speise, wie das grüne Kraut habe ich es euch gegeben.»
Dass der Fleischverzehr nach der Sintfluterzählung freigegeben wurde, kann man so interpretieren, dass die Welt eben nicht so ideal ist, wie wir uns das wünschen. Gewalt ist eine Realität. Weil Gewalt nicht komplett verhindert werden kann, wird das Mensch-Tier-Verhältnis nach der Sintflut neu beschrieben und der Fleischverzehr gewissermassen als Notlösung zugestanden.