Schwerpunkt 27. Dezember 2018, von Delf Bucher

«Die katholische Kirche war völlig reformunfähig»

Ohne Zwingli

Zwingli war auch auf Nebendarsteller angewiesen, sagt Kirchenhis­toriker Peter Opitz. Trotzdem waren seine persönlichen Eigenschaften entscheidend.

Hätte es Zwingli nie gegeben, würden wir Sie jetzt an der katholischen Felix-und-Regula-Universität von Zürich interviewen?

Peter Opitz: Auf historische Spekulationen lasse ich mich gerne ein. Kommt aber meine Biografie ins Spiel, muss ich passen. Ich kann mir mich weder als Katholiken noch als katholischen Theologen vorstellen.

Aber ist eine Reformation ohne Zwingli in Zürich denkbar?

Die Frage ist schwer zu beantworten. Immerhin: In der Geschichtsschreibung steht zwar Zwingli oft allein auf der Bühne. Doch es gab viele wichtige Nebendarsteller.

An wen denken Sie?

An die Bürgermeister Markus und Diethelm Röist. Markus Röist hat 1523 die erste Zürcher Disputation einberufen und geleitet, ein erster Schritt zum Durchbruch der Reformation. Auch sein Sohn Diethelm hat Zwingli unterstützt und ist 1528 mit ihm nach Bern geritten, um dort die Reformation einzuführen.

Ohne die Bürgermeister Röist also keinen Reformator Zwingli?

Die Geschichte ist selten ein Entweder-Oder. Zwingli selbst hatte keine politische Macht. Jeden Schritt musste der Rat bewilligen. Typisch für die Reformation in der Schweiz ist, dass sie weder von einem Reformator noch von einem Fürsten im Alleingang durchgesetzt werden konnte. Zwinglis Gedanken fielen auf fruchtbaren Boden, weil Veränderungen bereits in der Luft lagen.

War Zwingli somit einfach nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort?

Die charakterlichen Eigenschaften und die theologischen Ideen Zwinglis spielten schon eine Rolle. Er war ein Visionär mit der richtigen Mischung aus Durchsetzungswillen und politischem Geschick.

Das politische Talent unterscheidet Zwingli wohl von anderen Reformatoren. Woher hatte er es?

Er nahm aus seiner Jugend im Toggenburg eine republikanisch-eidgenössische Mentalität mit, die sein Handeln prägte. Zwingli sah sich immer als Volkspriester innerhalb dieses Bundes von Genossen.

Und trotzdem zog er am Ende gegen seine Genossen in den Krieg.

Zwingli kämpfte auf dem Schlachtfeld für die Freiheit des göttlichen Wortes. Er war überzeugt, dass die gesamte Eidgenossenschaft dieses göttliche Wort annimmt, wenn es überall frei gepredigt werden darf. Dafür griff er zum Schwert, als er keinen anderen Weg mehr sah.

Wie wurde aus dem Pazifisten Zwingli, der das Söldnertum bekämpfte, der Kriegsbefürworter?

Zwingli wollte den Glauben nie mit Gewalt durchsetzen. In der Bibel las er: Glaube ist ein Geschenk Gottes, er kann nicht erzwungen, sondern nur von freien Menschen ergriffen werden. Deshalb wollte Zwingli unbedingt, dass auch das Innerschweizer Volk die evangelische Predigt zu hören bekommt. Die Obrigkeiten der Innerschweizer verwehrten dies und liessen evangelische Prediger als Ketzer verbrennen.

Zwingli sah Zürich akut bedroht.

Genau. Papst und Kaiser verlangten, die Protestanten auszurotten. Und 1529 verbündeten sich die Innerschweizer mit den katholischen Habsburgern, den Erzfeinden der Eidgenossen.

Zudem wurde Zürich von gemeinsam regierten Gegenden, die sich der Reformation angeschlossen hatten und von katholischen Orten bedroht wurden, um Hilfe angerufen. Einen Verkündiger des Evangeliums der Versöhnung, der zu einem Feldzug aufruft, sollte man nicht rechtfertigen. Doch man muss fairerweise die extreme Situation und Bedrohungslage zur Kenntnis nehmen, in der sich das reformierte Zürich befand.

Wäre die Kirchenspaltung zu verhindern gewesen, wenn sich die Humanisten um Erasmus von Rotterdam durchgesetzt hätten?

Nein. Wer sich mit Rom anlegte, ris­kierte, als Ketzer zu sterben. Die damalige katholische Kirche war völlig reformunfähig, weil sie eng mit den politischen und wirtschaftlichen Mächten verschränkt war. Zwingli war bereit, für seine Überzeugungen zu sterben.

Erasmus war weniger furchtlos?

Er wagte kein klares Bekenntnis. Erasmus verachtete die katholische Frömmigkeit und die Sakramentstheologie, doch konnte er sich nicht durchringen, sich vom Papstsystem loszusagen. Katholische Theologen bekämpften auch ihn, seine Bücher wurden verboten. Erasmus zog sich resigniert zurück, und seine Bewegung geriet zwischen die Fronten.

Weit verbreitet ist die These: ohne Reformation kein Kapitalismus.

In der Zuspitzung ist die These widerlegt. Aber ein Zusammenhang zwischen Konfession und ökonomischer Entwicklung besteht. Es gibt Reiseberichte aus dem 19. Jahrhundert, die beschreiben, wie sich reformierte Kantone von ärmlichen katholischen Gebieten unterscheiden. Auch wirtschaftshistorische Da­ten belegen den Eindruck.

Aber die Städte prosperierten bereits vor der Reformation.

Ich sehe eine Wechselwirkung. Die Reformation brachte eine neue Einstellung zur Arbeit. Viele Feiertage wurden abgeschafft. Arbeit galt als Gottesdienst. Neben der gestärkten Arbeitsmoral wurde Ehrlichkeit zu einem zentralen Wert. Die Korruption wurde entschieden bekämpft, unverdiente Privilegien des Klerus oder der Obrigkeit galten als verpönt und wurden gestrichen.

Was ist für Sie denn das wichtigste Vermächtnis Zwinglis?

Für eine sich reformiert nennende christliche Kirche besteht Zwinglis Vermächtnis nicht in einem kulturgeschichtlichen Erbe, sondern in einer Aufgabe. Sie soll ihren christlich-religiösen Betrieb der heilsamen Kritik dessen aussetzen, von dem das Christentum seinen Namen hat: Jesus Christus. Um nichts anderes ging es Huldrych Zwingli.

Zürich ohne Zwingli – eine Spekulation

Was, wenn Zwingli nicht Leutpriester in Zürich geworden wäre? Zum Ende
der Ausstellung «Schatten der Reforma­tion» lässt diese historisch zentrale Frage die Reformationsgeschichte aus anderer Perspektive Revue passie-
ren. Es diskutieren Christina Aus der Au, Präsidentin Deutscher Evangelischer Kirchentag 2017, der Zürcher alt Regierungsrat Markus Notter und der Berner Geschichtsprofessor André Holenstein. Moderation: Felix Reich, «reformiert.».
Mittwoch, 27. Februar 2019, 19.00 Uhr
im Stadthaus Zürich