«Jeden Tag erlebst du eine neue Geschichte»

Die Strasse

Die Promenade in Davos ist ein Prototyp: Transportroute, Arbeitsplatz, Begegnungsort und ein Stück Lebensgefühl. Ein Strassenporträt anhand ihrer Menschen.

Ein sonniger Vormittag in Glaris Or­tolfi, der ersten Station von Bus­linie 1. Chauffeur Thabet Chelbi rich­tet den Rückspiegel, sucht im Radio die richtige Frequenz und verstaut eine Flasche neben der Werktasche. Sein Bus hat hier ein paar Minuten Wartezeit. Er drückt auf den roten Knopf, zischend öffnet sich die Bustüre. Ein Duft von gedüngten Wiesen strömt herein. Thabet Chelbi, den hier alle einfach Chelbi nennen, winkt dem Lokführer. Die Lok pfeift zum Gruss.

Chelbi arbeitet seit zwei Jahren als Buschauffeur in Davos. Schon in seiner Heimat Tunesien fuhr der gelernte Schweisser Bus und chauffierte Reisecars.

Die Rückeroberung

«Im Bus verhalten sich die Menschen überall gleich», sagt Chelbi und beobachtet im Rückspiegel, wie eine mit Gepäck beladene Schulklasse einsteigt. Kinder seien am liebsten vorne beim Chauffeur, die Erwachsenen haben gerne ­ihre Ruhe. «Geduld ist das Wichtigste bei unserer Arbeit», erklärt er. Er drückt aufs Gaspedal und fährt durch bis zur Sta­tion Spital auf der Promenade. So heisst die 3,5 Kilometer lange Haupt­­strasse, welche die Davoser Gemein­deteile Platz und Dorf verbindet. Seit jeher kaufen die Menschen auf der Promenade ein, sitzen in Cafés oder warten auf den Bus. Die Promenade ist für die Menschen in Davos der Dorf­platz.

Doch die «Lebensader» des Bündner Kurortes hat sich verändert. Wo in früheren Tagen englische, russische oder deutsche Kurgäste zwischen Alberti – dem Quartier rund um das Spital – und Hotel Belvédère promenierten, Kinder auf Schlitten über die Promenade rasten und die ersten Automobile im Kanton die Postkutschen ablösten, drängte der Verkehr die Fussgänger immer mehr an den Rand. Langsam holt sich die Bevölkerung ihre Promenade jedoch zurück.

Die «Verkehrsfreie Promenade», vor Jahren von Personen aus Tourismus, Handel und Gewerbe ins Leben geru­fen, ist heute ein von Gemeinde und Tou­rismus­organisation koordinierter Grossevent. Zudem dürfen Velos neu in beide Richtungen fahren, obwohl die Promenade ­eine Einbahnstras­se ist. Bei den Horlauben ist die Idee, aus der Strasse auch einen Treff­punkt zu machen, bereits um­gesetzt: mit einem neu gestalteten Platz. Auch die Parkplätze bei den Arkaden werden bis spätestens  2021 ersetzt durch ein «Neues Ortszentrum Arkaden». Geplant ist eine Begegnungszone mit Kultursaal, der historischen Entstehung der Arkaden nachempfunden.

Sicherheit lernen

Am belebten Postplatz steigen Frau­en mit Einkaufstaschen und ein paar Wanderer in Chelbis Bus. «Wo muss ich aussteigen zum Davosersee?», fragt ein Mann mit Rucksack und Sonnenhut. Die Schüler schieben ihre Koffer beiseite und machen den Frauen Platz. Chelbi tuckert bis zur nächsten Station hin­ter einem Velofahrer her.

Für Automobilisten und Fuss­gän­ger ist der neue Velogegenverkehr eine Umgewöhnung. Erst kürz­lich wurde ein entgegenkommender Ve­lofahrer von einem links abbiegenden Auto angefahren und schwer verletzt. Markus Meier kennt die He­­rausforderungen. Der Polizist und Verkehrsinstruktor arbeitet seit 27 Jahren in Davos. Auf der Prome­na­de erlebte er schon vieles: Unfälle, Gewaltdelikte und Raubüberfälle.  «Aber das Positive dominiert», sagt Meier. Dazu zählt er den Austausch und die Begegnungen mit den Leuten an seinem Arbeitsplatz.

Meier steht in seiner blauen Uniform beim Fussgängerstreifen an der Guggerbachstrasse, als eine Grup­­pe Jugendlicher vorbeigeht. Man grüsst sich gegenseitig. ­Meier kennt viele der Jugendlichen. Er ist in Davos der einzige Verkehrsins­truktor. Allen Kindergärtlern und Schülern bringt er bei, wie sie richtig und sicher eine Strasse überqueren. Meier steckt sein ganzes Herzblut hinein, wenn er Kinder und auch behinderte und ältere Menschen für den Strassenverkehr sensibilisiert. «Weil man insbesondere den Schwächs­ten auf der Strasse etwas weitergeben kann und man schon mit wenig Aufwand viel erreichen kann.» 

Im Verkehrsunterricht mit Kin­der­gärtlern lädt der Polizist auch die Eltern ein. «Ich sage immer: Ich kann es euren Kindern und euch El­tern vorzeigen. Aber nachher müsst ihr es gemeinsam üben; vor einem Zebrastreifen benötigen Kindergärtler zu Beginn eure Hilfe.» Meier empfiehlt den Eltern, den Schulweg vor dem ersten Schultag mehrmals gemeinsam zu begehen. «Ich vergleiche es mit Leistungssport: Zuerst muss jemand etwas vormachen, dann unterstützt man die Person, bis sie es selber kann.»

Bunte Stände im Sommer

Für Meiers Geschmack dürfte die Promenade idyllischer sein. «Die Strasse verliert sowohl für die Einheimischen wie auch für die Gäste an Attraktion.» Damit bezieht er sich auf leerstehende Geschäfte und den zunehmenden Durchgangsverkehr. Da Davos keinen Dorfplatz habe, müsste eigentlich die Promenade diese Funktion übernehmen. «Sie wäre dann der Begegnungsort von Davos.» Gut gefallen Meier deshalb die autofreien Tage auf der Pro­­menade. Jeweils fünfmal am Frei­­tagabend in den Monaten Juli und August bleiben Teilabschnitte der Promenade den Fussgängern vorbehalten. Statt Autos säumen jeweils Stände von Vereinen und Gewerbe die Strasse.

Jetzt ist allerdings Mittagsverkehr – und Chelbi lenkt seinen Bus hindurch. Er winkt seinem entge­genkommenden Kollegen auf der linken Fahrbahn zu, während im Radio eine Meldung zu einem durch­gebrannten Stier auf der Autostrasse bei Mastrils ertönt. Die Station Sportzentrum ist zum Kirchner-Mu­seum verschoben worden.

Chelbi verlässt hier die Promenade über die Kurgartenstrasse zur Talstrasse, die parallel zur Promenade nach Davos Dorf führt. Die Promenade zwischen den Stationen Schiabach und Parsennbahn ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Der Asphalt ist teilweise bereits aufgerissen, damit rund 2,5 Kilometer Kabelschutz- und knapp 1 Kilometer Entwässerungs- und Kanalisationsrohre verlegt werden können.

Eine exklusive Adresse

Die Bagger und Baumaschinen der Strassenarbeiter sind pausenlos im Einsatz, dafür gibt es keinen Verkehr. «Die Menschen verweilen nun wieder eher auf der Strasse», sagt Annina Ehrensperger. Sie ist an der Promenade 126 aufgewachsen und lebt noch heute dort, im einzigen Bauernhof mitten in der Stadt. «Was, du wohnst an der Promenade, und in einem Bauernhaus?» Diese Fragen habe sie oft gehört, sagt die Davoserin. Heute sind die Ställe leer. Der Sohn hat den Betrieb ins nahe Dischmatal verlegt. Aber gerne erinnert sich die Davoserin, wie sie stolz hoch oben auf dem Heuwagen über «ihre» Promenade fuhr. «Früher war der Verkehr kein Thema. Heute stört er mich.»

Die Promenade war ihr Schulweg und ist heute ihr Arbeitsweg. Sie ist Messmerin der reformierten Kirche St. Theodul am Ende der Promenade. «Ich empfand es immer als Luxus, an dieser Strasse zu wohnen», sagt sie. Die Jahreszei­ten würden  sich am Betrieb auf der Promenade gut erkennen lassen. «Im Winter herrscht hier ein einziges Gewusel von Farben: Skianzüge, Sportgeräte und mittendrin der Bus. Ausser während des WEF, da sehe ich buchstäblich nur schwarz», scherzt Annina Ehrens­perger über den Anlass, der dem Kurort am meis­ten Geld in die Kassen spült: das Weltwirtschaftsforum.

Am meisten mag sie die Zwischensaison. Dann sei die Strasse wie ausgestorben. Die wenigen, die man treffe, seien alles Bekannte. Ganz anders im Sommer, in der Zeit des Alpinmarathons beispielsweise: «Al­les ist auf den Beinen.» Manchmal sehnt sie sich ein bisschen nach der Zeit zurück, als sie die Geschäfte von der Kirche bis zum Schiabach alle auswendig aufzählen konnte. «Es hatte für mich etwas Verbindliches, schaff­te Heimat – und auch Arbeitsplätze.» Heute ändert sich die Ladenzeile jährlich. Wer länger als zwei Jahre durchhält, hat eine Nische gefunden.

Massarbeit mit Laser

Nicht nur auf, sondern auch unter der Strasse herrscht Dynamik. Welche Leitungen und Rohre sich unter der Promenade befinden, weiss Marco Ryffel genau. Der 54-jährige Polier leitet 18 Bauarbeiter an, die seit Ostern auf einem 700 Meter langen Abschnitt der Promenade Kanalisations- und Entwässerungsrohre, Strom- und Telekomleitungen ersetzen. «Wir müssen heute viel exakter arbeiten als früher, da es mehr Rohre und Leitungen unter der Strasse gibt», sagt er.

Auf dem mittleren Baustellenab­schnitt setzen Arbeiter das neue Entwässerungsrohr ein. Ein Laserstrahl zeigt die richtige Neigung an; das Rohr muss sich 0,5 Prozent senken, damit das Regenwasser in den Sammelschacht läuft. Während ein Arbeiter im Graben steht, steuert ein anderer den Bagger, um Teile des Grabens wieder zuzudecken. Ryffel beobachtet und gibt Anweisungen, die im Lärm nur schwer hörbar sind. Mit den meisten portugiesischen Stras­sen­arbeitern kommuniziert er auf Italienisch.

Der Baustellenleiter mag an seiner Arbeit die Vielfältigkeit. Und dass er so viel draussen sein kann. Unter seiner gelben Leuchtweste trägt er ein Muskelshirt. Die Arme sind von der Sonne dunkelbraun. «Die richtige Bräune kommt noch. Bis jetzt hatten wir nur zwei Sonnentage.» Marco Ryffel ist in Davos aufgewachsen. Der gelernte Maurer arbeitet seit zwölf Jahren im Tiefbau.

Letztes Jahr leitete er die Baustelle am vorderen Teil der Promenade. In drei Etappen während dreier Jahre wird das Innenleben der Strasse erneuert. Für nächstes Jahr sind die Erneuerungen am letzten Abschnitt geplant. «Das Leben auf der Promenade hat sich von Davos Platz Richtung Davos Dorf verlegt», sagt Ryffel. Den Grund dafür sieht er in der neuen Migros in Davos Dorf, wo es auch ein Restaurant hat. Hier treffen sich viele nach dem Einkauf noch.

Mit dem Velo zum Bier

Der Polier wohnt nahe an der Promenade. Auf der Höhe der katholischen Kirche zeigt er auf ein graues Mehrfamilienhaus, das ein bisschen zurücksteht. «Ich lebe quasi auf der Baustelle», scherzt er. Sein Arbeitsweg ist kurz. Das geniesst Ryffel an Davos, alles ist auch mit dem Fahrrad erreichbar. So nimmt er für das Feierabendbier an der Promenade gerne das Velo.

Während er auf der Baustelle erzählt, grüsst er mehrmals Passanten beim Namen. «Davos ist de facto eine Stadt, aber trotzdem ist es ein Dorf geblieben.» Man kennt sich hier. «Die Promenade ist für uns Davoser, was für Zürcher die Bahnhofstrasse ist», sagt Ryffel, der vor einem leeren Schaufenster steht. Viele Geschäfte sind geschlossen während der Zwischensaison. Andere bleiben für immer zu. Zu hoch seien die Mieten.

Marianne Müller hat es dennoch gewagt. Vor fünf Jahren verwirklichte sie sich mit dem «AlpäTraum» an der Promenade 144 einen lang gehegten Wunsch: ein kleines Lebensmittelgeschäft, in dem die Kunden auch einen Cappuccino trinken kön­nen. «Ich wollte den Leuten selbst gemachte und regionale Produkte näherbringen», erklärt sie.

Während draussen der Presslufthammer rattert, ist es im kleinen, Alpenchic ausstrahlenden Spezialitätengeschäft richtig gemütlich. Etwas Mut brauchte der Schritt in die Selbstständigkeit schon. Doch die Rechnung ging auf. Das Lokal ist bei Touristen und Einheimischen beliebt. Dass die Leute miteinander ins Gespräch kommen, sei ihr eine Herzensangelegenheit, sagt Müller.

Eine Frage des Überlebens

Entscheidend für den Erfolg ist nicht zuletzt die Lage. «Die Promenade ist meine Existenz», erklärt Müller. Der Standort nahe der Station Dischmastrasse ist mit all den Geschäften und Gewerbebetrieben eine belebte Ecke, nur wenige Meter von der Par­sennbahn entfernt. Im Winter wimmelt es geradezu von Touristen, die gerne einkehren und sich bei einer heissen Schokolade aufwär­men oder Bündner Spezialitäten als Geschenke kaufen.

Doch auf den Lorbeeren ausruhen könne man sich nie, weiss Müller. «Innovation ist gefragt, wenn man überleben will.» Seit zwei Jahren bietet die Ge­­schäfts­frau jeweils am Freitagmittag thailändisches Essen an – gekocht von einer Thailänderin, der Müller die Integration im Dorf erleichtern möch­te.

Zuvor war die 49-Jährige sieben Jahre Wirtin eines Bergrestaurants mit Schaukäserei auf der Clavadeleralp. «Die Leute kauften meine Produkte und nahmen sie mit nach unten. Ich dachte, es wäre doch naheliegend, wenn sie diese gleich im Dorf kaufen könnten.»

Die zentrale Lage habe aber auch Nachteile: Im Winter sei die stark befahrene Promenade lärmig und stickig. Die schönste Zeit im Jahr sei für sie der Sommer, dann sei alles etwas gemächlicher – Zeit zum Flanieren und Feiern. Das Leben spiele sich dann auf der Strasse ab.

Mit gutem Beispiel voran

30 Jahre wohnt die gebürtige Thurgauerin in der Stadt in den Bergen; den Bünd­ner Dialekt beherrscht sie mitt­lerweile perfekt. Vieles habe sich in dieser Zeit verändert. Prägend war 2015 die Eröffnung des Symondparks zwischen Davos Dorf und Platz. Die Anlage mit Eigentumswohnungen, Hotel und ­einer grossen Migros ziehe nun mehr Men­schen auch ins Dorf, wovon sie profitieren könne.

Andere Entwick­lungen beobachtet Müller mit gemischten Gefühlen. Einige Läden an der Promenade mussten unter dem Preisdruck schliessen. Sie selber kauft fast alles in den umliegenden Geschäften. Mit ihren Produkten möchte sie die Leute ermuntern, es ihr gleichzutun.

Alles gefunden

Chelbi verlässt nun die Promenade und erreicht den Bahnhof Dorf. «Bitte hier aussteigen», ruft er den Wanderern zu, «fünf Minuten bis zum Davosersee.» Bevor er zur Endstation Landhaus Laret weiterfährt, kauft er rasch ein Baguette fürs Abendessen. Er habe Europa schon immer kennenlernen wollen, sagt er. In Davos blieb er hängen, weil er gute Arbeit gefunden und dann seine Frau kennengelernt habe, «im Trackclub».

Chelbi kontrolliert den Benzinstand und stellt die Busansagen neu ein. «Das Fahrzeug ist wie ein Kollege für mich, ich mag es nicht, wenn man grob zu ihm ist», sagt er. «Im Bus erlebst du jeden Tag eine neue Geschichte.» Einmal habe er erst im Busdepot beim Putzen gemerkt, dass jemand auf den Sitzen eingeschlafen war.

Ein Junge steigt ein und begrüsst Chelbi mit der Hand aufs Herz. Sie sprechen arabisch, Chelbis Muttersprache. Der Junge ist aus Libyen geflüchtet und wohnt im Transitzentrum im Laret. «Er fragt mich, wie man Busfahrer wird», sagt Chel­bi und lächelt. Sein Chef beklage oft, dass es zu wenig Nachwuchs gebe, weil die Ausbildungskosten so hoch seien. Chelbi hatte Glück, er musste nur noch eine Nachprüfung absolvieren. «Wenn ich wählen könnte, würde ich sofort wieder Busfahrer werden.»

Davos in Zahlen

Mit 1560 Meter über Meer (Davos Dorf) gilt Davos als höchstgelegene Stadt Europas. Der höchste Berg der Landschaft ist das Schwarzhorn mit 3146 Metern. Bereits seit den 1930-Jahren leben hier über 11 000 Ein­wohner und Einwohnerinnen. Ak­­tuell sind es rund 13 000; während der Hochsai­son vervierfacht sich diese Zahl, vor allem aufgrund des Win­­ter- und Kongresstourismus.

Der Fremdenverkehr schafft daher auch am meisten Arbeitsplätze (1900), gefolgt vom Gesundheits- und So­zialwesen (900). Sechs sogenannte Fraktionsgemeinden bilden zusam­men die politische Gemeinde Davos (Dorf, Platz, Monstein, Frauenkirch, Glaris und Wiesen).

Das Ortsbusnetz wird vom Verkehrsbetrieb der Gemeinde Davos zusammen mit der Postauto Schweiz AG und dem ortsansässigen Transportunternehmen Kessler betrieben. Es ver­bindet auf acht Linien Davos Dorf und Platz mit den Aussenbezirken und den Seitentälern. Im Sommer sorgen 11 Busse − im Winter sind es 14 − auf einem 66 Kilometer langen Busnetz für die Beförderung von jährlich 4,5 Mi­l­lionen Gästen und Einheimischen. rig