Schwerpunkt 24. Februar 2016, von Hans Herrmann

«Verzicht wird von Gott nicht belohnt»

Verzicht

Matthias Zeindler ist gegen religiöses Leistungsdenken. Dem Fasten kann der Theologe aber viel Positives abgewinnen – als Förderung der individuellen Andacht.

Wir haben Menschen in zwei christlichen Gemeinden besucht, die vor Ostern fasten. Die einen tun es, um aus dem Verzicht heraus eine spirituelle Erfahrung zu machen. Andere verstehen es als Geben und Nehmen: Bin ich fastend nahe bei Gott, werde ich erhört, auch materiell. Was ist daran biblisch?

Matthias Zeindler: Die ökumenische Fastenwoche in der Passionszeit schliesst an eine biblisch begründete spirituelle Praxis an. Das Zelebrieren des Wohlstands dagegen, die Tauschmentalität im Sinne von «ich faste und bekomme etwas dafür», ist vor allem in pfingstkirchlichen Bewegungen recht verbreitet und hat in armen Ländern Konjunktur. Deshalb habe ich auch gewisse Hemmungen, ein Urteil darüber abzugeben. Aber ich halte es schon für eher bedenklich.

Warum?

In der Bibel gibt es zwar keine generelle Ablehnung des Reichtums. Dass es den Menschen auch materiell gut geht, entspricht Gottes Wille. Aber dass Gott bestimmte Menschen privilegiert und für ihre Leistungen – also auch für eine Verzichtleistung – mit Reichtum belohnt, widerspricht den biblischen Aussagen.

Es gibt im Alten Testament materiellen Reichtum als Zeichen von Gottes Segen, etwa bei Abraham, Jakob oder Salomo. Im Vordergrund steht aber in der ganzen Bibel die Aussage, dass Gott auf der Seite der Armen steht und Armut überwunden werden soll.

Worauf könnten Sie selber am ehesten, worauf zuletzt verzichten?

Als Mensch, der im Wohlstand lebt, könnte ich auf vieles verzichten, auch wenn es mir lieb geworden ist. Wenn ich jetzt aber plötzlich flüchten müsste, würdesich sofort herauskristallisieren, was wirklich unver­zichtbar ist. Wahrscheinlich würde dann nur noch etwas bleiben, meine nächsten Mitmenschen – meine Familie.

Was wir haben, das haben wir. Grundsätzlich verzichtet niemand gerne auf etwas. Warum tun wir uns damit so schwer?

Besitztümer haben wohl mehr mit unserer Identität zu tun, als wir glauben. Besonders schwierig wird Verzicht dann, wenn es um elementare leibliche und geistige Bedürfnisse geht: Hunger und Durst, Status und Sicherheit, Sex und Familie, selbstbe­stimm­te Lebensführung.Darauf beziehen sich die klassischen Mönchsgelübde, die Armut, Keusch­heit und Gehorsam fordern.

Fasten, Verzicht und Askese haben in vielen Religionen seit Tausenden von Jahren eine wichtige Stellung.

Religion heisst Bindung an die Gottheit oder an das Göttliche. Fasten und generell Askese können eine Praxis der Hingabe sein: Ich nehme mich zurück zugunsten Gottes. Indem ich zu meinen Bedürfnissen Abstand bekomme, gewinne ich Freiheit für Gott.

Auch die Bibel kennt die Askese, aber hier ist sie auf bestimmte Zeiten beschränkt – was sich in den Fastenzeiten des Christentums abbildet. Generell hat die Bibel aber ein positives Verhältnis zum Leiblichen, zu Genuss und sinnlicher Freude.

Verzicht fördert also den Rückzug auf Geistiges. Warum aber verbinden wir vor allem sinnliche Erfahrungen mit Überfluss und nicht auch geistige?

In der Tat kann Fasten beziehungsweise Askese den Zugang zu einem geistigen Reichtum eröffnen, der erfüllender ist als materieller Überfluss. Und materielle Armut kann mich frei machen für geistigen Reichtum. Askese ist also nicht einfach lebensfeindlich. Sie kommt auch aus der Ahnung heraus, dass Leben mehr ist als materieller Konsum. Und dass in der Konzentration auf Weniges eine grosse Fülle liegen kann.

Wie kam es zur sprichwörtlichen reformierten Bescheidenheit?

Dass Zwingli oder Calvin für eine freudlose Arbeitsmoral verantwortlich seien, ist ein beliebtes, aber falsches Klischee. Mit ihren Verboten von öffentlichem Flu­chen, Geldspiel, Prunksucht oder Tanz bewegten sich Zürich und Genf im Rahmen des im Spätmittelalter Üblichen.

Trotzdem haben die Reformierten dieses Image.

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zu einer grundsätzlichen Bescheidenheit führt die Ansicht, dass wir «allein aus Gnade» erlöst werden. Das Entscheidende in unserem Leben können wir nicht selbst erarbeiten. Zudem hatten die Reformierten von Anfang an einen hoch entwickelten Sozialgedanken: Sie erinnerten daran, dass Eigentum auch verpflichtet, und förderten eine ausgebaute Ar­menfürsorge.

Weiter war für die Reformatoren eine christliche Lebensführung nicht mehr allein Sache der Mönche und Nonnen: Der gesamte Alltag wurde zum Ort, wo der Glaube gelebt werden soll. Und schliesslich stand besonders für Calvin die Ehre Gottes im Zentrum. Das trägt auch dazu bei, dass wir uns als Menschen weniger wichtig nehmen.

Es gibt wenige sehr Reiche, viele Arme, begrenzte Ressourcen: Verzicht ist eigentlich ein Gebot der Stunde zur Rettung des sozialen Friedens und der Lebensgrundlagen.

Das sind sicher zwei der grössten Probleme unserer Zeit: die obszöne Ungleichverteilung des Reichtums und die Klimaveränderung. Die individuelle Einschränkung allein ist sicher nicht die Lösung, aber ein Teil davon. Wir brauchen generell eine allgemein verbindliche Klimapolitik und eine Wirtschaftsordnung mit gerechter Güterverteilung.

Eine spirituelle Form des Verzichts ist das Fasten. Warum fasten Christen in der Passionszeit?

Schon im Alten Testament ist das Fasten vorab mit Trauer verbunden, etwa im Zusammenhang mit einem Todesfall. Die Passionszeit ist die Zeit, wo Christen sich an das Leiden Jesu erinnern. Mit dem Verzicht auf Essen und Trinken nehmen sie ein kleines Stück Leiden auf sich und vollziehen etwas von Jesu Leiden am ­ei­genen Leib nach. So hilft das Fasten, die Passion Jesu innerlich mitzugehen.

Jesus hat auch gefastet – warum hat die Reformation diese Praxis abgeschafft?

Jesus zog sich zu Beginn seiner Aktivität vierzig Tage fastend in die Wüste zurück. Im Unterschied zu Johannes dem Täufer war er aber kein Asket – er liebte Feste und wurde als «Fresser und Weinsäufer» kritisiert. In den frühen christlichen Gemeinden spielte das Fasten dann wieder eine gewisse Rolle.

Die Reformatoren hingegen sahen das Fasten zu ihrer Zeit als fromme Leistung, die die Kirche den Menschen auferlegt. Die Kritik am Fasten war somit Kritik am religiösen Leistungsdenken. Aber nicht eine grundsätzliche Kritik am Fasten: Wo man religiöse Praxis vom Leistungsdenken befreit, soll­te auch für Reformierte ein positiver Zu­gang zum Fasten möglich sein.

Man könnte im neu erwachten Interesse an Verzicht und Fasten aber auch ein Leistungsdenken sehen – eher ein psychologisches als ein religiöses: Wer Gutes tut, möchte dafür zum Beispiel sozial gut dastehen.

Unsere Gesellschaft wertet ethische Ernsthaftigkeit gerne ab als «Gutmenschentum» oder «political correctness». Das halte ich für zynisch: Der gleichgültige Mensch soll dann plötzlich der moralischere sein. Von dieser Umwertung von Werten halte ich gar nichts. Ich möchte aus diesem Grund das neue Interesse am Fasten nicht als Luxus abtun, sondern vielmehr als Suche nach zeitgemässen Formen von Spiritualität würdigen.

Dass man dabei auf Elemente aus anderen Konfessionen zurückgreift, ist ein Zeichen der ökumenischen Offenheit, die für die Reformierten stets kennzeichnend war. Fasten passt übrigens auch gut zur reformierten Spiritualität mit ihrer Konzentration auf das Wesentliche. Es ist gut reformiert, geistliche Elemente zu fördern, die der individuellen Andacht dienen.

Matthias Zeindler, 57

Er ist Leiter des Bereichs Theologie bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn sowie Titular­professor für Syste-ma­ti­sche Theologie/Dogmatik an der Universität Bern. Während etlicher Jahre arbeitete er auch im Gemeinde­pfarramt. In einer Betrachtung im Magazin «Doppelpunkt» beschrieb er unlängst den christli­chen Gott als Gott der Fülle, nicht als Gott des Mangels: «Gott gibt weit über das Nötige hinaus.» Und: «Das Geben Gottes ist die Sprache der Liebe.»