Schwerpunkt 27. Juli 2017, von Marius Schären

«Zu viel Besitz macht bequem und unfrei»

Gefangen

Sonja Krauer hat studiert, arbeitet aber als Verkäuferin und Masseurin. Doch gerade wenig zu haben ermögliche ihr die Freiheit, ihr Leben frei zu leben.

Ein Schreibtisch, eine Kommode, ein Massagefuton, ein paar Tassen, zwei Schüsselchen, zählt Sonja Krauer auf: Das gehöre zu ihrem Eigentum. Eine Tasche und eine Velopumpe. Und: «Mein Velo, das habe ich, seit ich acht Jahre alt bin», sagt die 26-Jährige und ergänzt: «Ja, am Anfang war es noch ein bisschen gross.» Sieben Paar Schuhe, rechnet sie im Kopf zusammen, weist auf die Sandalen, lacht: «Das ist eines der zwei Paare davon, die langsam auseinanderfallen.»

Dass sie zum Gespräch einfach mit dem erscheint, was sie auf sich trägt ohne Tasche, Rucksack, Fahrzeug, Jacke, ist nicht nur der sommerlichen Wärme und dem Zufall geschuldet. Es zeigt ihre grundsätzliche Haltung: «Für mich macht es keinen Sinn, mehr zu haben.»

Freiheit der Beschränkung. Ihr Weg zum Minimalistischen war nicht vorgegeben. Aufgewachsen im Berner Oberland, absolvierte sie das Gymnasium und ein Bachelor-Studium der Religions­wissenschaften und Englisch. Lange habe sie an einen üblichen Lebenslauf gedacht: Studium, Job, Familie.

Erst gegen Ende des Studiums realisierte Sonja Krauer, dass sie viel freier ist in der Wahl des Weges. Zudem fühlte sie sich unwohl in der akademischen Welt. Schliesslich wurde sie selbstständige klassische Masseurin und bildet sich zurzeit in Shiatsu weiter. Daneben arbeitet sie als Verkäuferin von Lebensmitteln im kleinen Matte-Lädeli in der Stadt Bern.

Sonja Krauer hat sich nicht nur befreit von fremden und eigenen Erwartungen. Nur schon ihr Lohn erlaubt ihr kein Leben auf grossem Fuss. Gefangen in den beschränkten Möglichkeiten fühlt sie sich deshalb nicht. Eher das Gegenteil: «Freiheit bedeutet für mich zu leben, wie ich es möchte. Und gerade dies fällt mir mit wenigen Dingen leichter.»

Macht der Gewohnheit. Mehr zu besitzen erleichtere nicht und mache nicht glücklicher. Davon ist Sonja Krauer überzeugt, aus eigener Erfahrung und von der Beobachtung anderer. «Wenn man sich mal an etwas gewöhnt hat, ist es schwierig, davon wegzukommen. Man ergibt sich schnell der Bequemlichkeit. Das macht unfrei.» Als befreiend empfindet sie zudem die Gewissheit, für den Rest des Lebens mit so wenig leben zu können, wie sie es jetzt tut.

Die günstige Genossenschaftswohnung in einem kleinen Mehrfamilienhaus teilt sie sich mit einem Mitbewohner. Doch selbst wenn sie es sich durchaus als schön vorstellt, in einem grossen alten Haus leben zu können: Der Standard in der Schweiz sei zu hoch, stellt sie fest.

«Es macht auch ökologisch keinen Sinn, so viel zu haben, wie es in der Schweiz im Durchschnitt der Fall ist. Zudem wäre das nie für alle Menschen auf der Welt möglich.» So werde sie manchmal auch wütend, wenn sie Leute klagen höre, wie wenig sie verdienten. «Tatsächlich weniger zu haben, würde uns helfen zu verstehen, wie es für viele andere ist.»

Im Verlauf des Gesprächs kommt Sonja Krauer in den Sinn, dass sie noch eine Gitarre hat. «Occasion für fünfzig Franken online gekauft – willst du sie? Ich brauche sich nicht.»