Schwerpunkt 27. Juli 2017, von Felix Reich

«Die Freaks, für die Jesus attraktiv war, fehlen der Kirche»

Gefangen

Pfarrer Markus Giger spricht über seinen Passionsweg in der Seelsorge, die klösterliche Wirkung der Untersuchungshaft und die moralischen Forderungen, in denen

Fühlen Sie sich manchmal gefangen?

Markus Giger: Zunehmend fühle ich mich im Amt des Pfarrers gefangen. Ich werde nicht nur als Person Markus Giger wahrgenommen, sondern immer auch als Pfarrer Markus Giger. Oft rechtfertigen sich Leute ungefragt, dass sie aus der Kirche ausgetreten sind, oder Gespräche werden schnell seelsorgerisch. An Apéros oder an einem Fest achte ich inzwischen darauf, dass wir nicht zu schnell auf den Beruf zu reden kommen.

Sie wären lieber gar nicht mehr Pfarrer?

Menschen als Vertrauensperson begleiten zu dürfen, erachte ich weiterhin als Privileg. Und ich weiss, dass mir mein Amt Türen zu Menschen und Institutionen öffnet. Aber manchmal empfinde ich es als hinderlich. Ich bin wohl gefangen in meiner eigenen Rollendefinition, wie ich als landeskirchlicher Pfarrer zu sein habe. Zudem bin ich in einem Alter, in dem ich zurück und nach vorne schaue. Ich merke jetzt, da unsere Tochter die Lehrabschlussprüfung bestanden hat, wie sehr meine Frau und ich uns übers Elternsein definiert haben. Verantwortung zu tragen, kann auch einengen.

Wann kippt das Eingebundensein in ein Gefühl des Gefangenseins?

Wenn die Erwartungen, die an mich herangetragen werden, und das, was ich geben will, nicht mehr zusammenpassen. Wenn ich nur noch den Pfarrer geben würde, statt ihn zu sein, wäre es Zeit, mich aus der Situation zu befreien.

Kann Sie Ihr Glaube aus dem Gefühl des Gefangenseins befreien?

Mir ist wichtig, meine Spiritualität zu hinterfragen. Begegnungen mit Menschen in der Streetchurch, die nicht kirchlich sozialisiert sind, haben mich verändert. Durch die oft jahrelange Begleitung von jungen Menschen mit gebrochenen Biografien musste ich mit gewissen Annahmen aus dem evangelikalen Umfeld meiner Jugend brechen. Die Menschen hier entsprechen nicht den traditionellen Erwartungen, die in vielen Kirchen an einen «guten Christen» gestellt werden.

Sind die Kirchen in ihren moralischen Vorstellungen gefangen?

Sie sind gefangen in ihren moralischen Erwartungen und damit nicht mehr frei für die Menschen, wie sie nun einmal sind. Jesus hatte etwas, das die Menschen fesselte. Er nahm jeden als wertvolles Individuum wahr und beurteilte ihn nicht aufgrund seiner Taten oder seiner sozialen Stellung. Das machte ihn für jene Menschen attraktiv, die wir heute in der Kirche kaum mehr finden: die Freaks, die Gescheiterten, die Unangepassten.

Sie vermissen den jesuanischen Geist?

Meine theologische Auseinandersetzung in den letzten Jahren hat mich zur Frage geführt: Sind wir Jesus zugehörig oder Paulus hörig? Paulus, der überragende Theologe des Urchristentums, hat in seinen Briefen den christlichen Glauben nicht nur durchdacht, sondern auch moralische Forderungen aufgestellt, die zu erfüllen für den Eintritt ins Himmelreich unabdingbar waren. Jesus aber formuliert in den Gleichnissen und in der Bergpredigt ethische Kriterien wie etwa die Feindesliebe oder die bedingungslose Hingabe an den Nächsten. Viele Kirchen hörten und hören in ihren Ewartungen an einen christlichen Lebensstil aber vor allem auf Paulus.

Woran merken Sie das?

Kürzlich hielt ich in der Streetchurch einen Input zur Recherche einer Journalistin im Rotlichtmilieu. Sie widerlegt die Mär, dass sich Frauen freiwillig prostituieren würden. Danach erzählte ein junger Mann, dass es für ihn ganz selbstverständlich sei, ins Puff zu gehen, wenn die Freundin keinen Sex mehr wolle. Trotzdem bezeichnet er sich als Christen. Bei den traditionellen Kirchgängern wären die Meinungen gemacht.

Und bei Ihnen?

Ich will nicht moralisch über diesen jungen Mann urteilen, sondern mit ihm offen und vorurteilsfrei im Gespräch bleiben. In solchen Situationen habe ich die Wahl, ob ich Jesus oder Paulus betone. Wenn wir, wie es der Apostel verlangt, alles aus der Gemeinde ausschliessen würden, die seinem moralischen Kodex nicht entsprechen, wären wir in der Streetchurch sehr schnell sehr einsam.

Aber Jesus stellt doch auch Forderungen. Oder müssen wir jetzt Prostitution bejahen, um nicht als Moralapostel zu gelten?

Ich lehne Prostitution weiterhin ab, weil sie Menschen entwürdigt. Aber ich möchte nicht mit einer moralischen Forderung an die Jugendlichen herantreten. Das bringt keinen Prozess in Gang. Vielmehr habe ich versucht, mit ihnen zu erarbeiten, wie sich der Geist Jesu zeigt. Was bedeutet sein Umgang mit Prostituierten, der sehr respektvoll war, für uns? Solche Diskussionen sind nur möglich, wenn ich den Jugendlichen vorurteilslos begegne.

Sie sagten vorhin, Sie hätten sich in den letzten Jahren auch von eigenen moralischen Vorstellungen befreit. Von welchen?

Im Begleiten homosexueller Menschen merkte ich: Die Kirche und auch ich haben Menschen weh getan, weil wir ihre sexuelle Orientierung abgelehnt haben. Es ist leicht, mit Zitaten aus den Paulus-Briefen Homosexualität zu verurteilen. Aber was bedeutet das für Menschen, die so empfinden und Christ sein wollen? Es manövriert sie ins Abseits.

Hat sich Apostel Paulus also geirrt?

Ich glaube, wir dürfen Paulus als von Gott inspirierten Menschen sehen, der aber auch als Christ in seinen Ansichten von seiner pharisäischen Herkunft geprägt und auch – zumindest teilweise – in der strengen pharisäischen Moral gefangen blieb. Die Frage ist: Darf Paulus als Autor biblischer Schriften ein fehlbarer und damit hinterfragbarer Mensch bleiben?

Ihre Antwort lautet Ja?

Genau. Paulus vom Nimbus der Unfehlbarkeit zu befreien, hilft mir, mich konsequent an Jesus zu orientieren. Jesus ist stets unvoreingenommen auf Menschen zugegangen. Seelsorge funktioniert nur, wenn sich ein Mensch bedingungslos angenommen fühlt.

Sie sind Gefängnisseelsorger für jugendliche Straftäter. Da ist es wohl schwieriger, bedingungslos Ja zu sagen zu einem Menschen.

Natürlich ringe ich um Fassung, wenn mir jemand erzählt, wie er zwei Menschen umgebracht hat. Dieses Empfinden thematisiere ich in der Seelsorge. Möglich ist das jedoch erst, wenn ich mich so bedingungslos auf den Menschen einlasse, wie es Jesus vorgelebt hat.

Was macht die Gefangenschaft mit den Jugendlichen?

Erstaunlicherweise höre ich oft: «Es ist gut, dass ich im Gefängnis gelandet bin.» Insbesondere ein Untersuchungsgefängnis hat etwas Klösterliches. Hier hat ein Jugendlicher anfangs nicht einmal einen Fernseher, er ist viel alleine, an Wochenenden 22 Stunden am Tag. Das ist knallharte Konfrontation mit sich selbst. Darum bin ich als Seelsorger gern gesehen. Ich repräsentiere weder die Justiz, noch rapportiere ich.

Wie erleben Sie die Gespräche?

Selten ist das Delikt das erste grosse Thema. Im Zentrum steht der Schmerz über die eigene Vergangenheit, beispielsweise wenn jemand vom Vater jahrelang geschlagen wurde. Solche Erfahrungen brechen in der Haft regelrecht aus den jungen Menschen heraus.

Darüber zu reden, befreit?

Die Befreiung liegt im Geheimnis des Mitleidens. Ich bin überzeugt, dass man am Leid eines Menschen nur dann wirklich Anteil nehmen kann, wenn man Ähnliches erlebt hat. Viele junge Leute, die ich begleite, haben schwierige Beziehungen zu ihren Vätern, die oft mit Alkohol Probleme hatten. Mein Vater war auch Alkoholiker. Ich kenne die Angst, wenn der Vater nachts heimkommt, ich weiss, wie er einen anschaut. Ich fühle die Angst. Das ist es, was viele, die mir von ihren schlimmen Erfahrungen erzählen, als befreiend erleben. Denn ich weiss, wie es ist, unter solchen Umständen zu überleben. Darum bin ich heute einverstanden mit meiner Jugend.

Inwiefern?

Ich warf Gott lange vor, dass ich zu Hause zwanzig Jahre leiden musste. Heute verstehe ich, dass ich von Jesus gerufen bin, den Karfreitag der Menschen in der Welt, also ihr Leid, zu teilen. Aber ich tue es aus der Hoffnung von Ostern her. So konnte ich meine Geschichte akzeptieren. Kreuz und Auferstehung Jesu sagen uns: Leiden wird durch Mitleiden überwunden. Ein Neuanfang ist möglich.

Markus Giger, 49

Der reformierte Pfarrer ist theologischer Leiter Streetchurch in Zürich. Sie bietet ne­ben Gottesdiensten Sozialberatung, Beschäftigungsprogramme und begleitetes Wohnen an. Giger ist zudem Gefängnis­seelsorger für jugend­liche Straf­täter. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.