Schwerpunkt 27. Juli 2017, von Katharina Kilchenmann

Gefangen im Zwang zur Freiheit

Gefangen

Gefängnisse gibt es viele. Nicht alle haben Gitter. Zuweilen führt auch der von Marketingstrategen und Ratgebern beworbene Freiheitsdrang in die Gefangenschaft.

Was weiss ich als Durchschnittsschweizerin denn schon vom Gefangensein? Mit welcher Faser meines Seins kann ich nachempfinden, was Menschen erleben, die in einer Stadt eingekesselt leben müssen, gefangen in einem Kellerloch, weil rundherum der Krieg tobt? Was weiss ich Verschonte von Schicksalsschlägen, die einen Menschen nach einem Unfall oder durch eine Krankheit in seinem Körper einsperren und ihn gefangen nehmen in Immobilität oder Schmerz?

Selber schuld. Fast banal wirken daneben Gefangenschaften, die scheinbar selbstgewählt sind: Etwa das Gefangensein in unglücklichen Beziehungen, in unpassenden Lebensumständen oder in einer Sucht. «Befrei dich», raten psycho­logische Ratgeber. «Lass los, was dir nicht gut tut. Du bist die Herrin in deinem Haus, wer sonst als du könnte dich befreien vom Gefühl des Gefangenseins?» Damit scheint klar: Wer sich gefangen nehmen lässt, ist selber schuld.

Natürlich ist da etwas Wahres dran. Doch nicht alle, die sich in unserer freiheitlichen Gesellschaft unfrei oder gar gefangen fühlen, haben schon ein Problem, von dem sie sich befreien müssen.

Frei sein über alles. Freisein ist heute Lifestyle. Wann und wo wir wollen, können wir kommunizieren. Und wir tun es, auch in der Nacht bleibt das Handy eingeschaltet. Überall können wir einkaufen, auch wenn wir schon vieles haben, diese Freiheit lassen wir uns nicht nehmen. Es ist Belohnung dafür, dass wir bei der Arbeit alles und noch mehr geben.

Wir beuten uns selber rücksichtslos aus. Und das freiwillig. Wir brauchen keinen Chef mehr, der uns antreibt. In der Leistungsgesellschaft übernehmen wir das selber. Wir nehmen uns gefangen, weil wir dazu gehören wollen: für Status, Be­sitz und Schönheit sind wir bereit, fast alles zu tun. Und diesen Zwang nehmen wir auch noch als Freiheit wahr. Eine Freiheit jedoch, für die wir einen hohen Preis bezahlen.

Die Selbstausbeutung hinterlässt näm­lich Spuren, in der Seele wie im Körper. Und diese Spuren zu lesen, lohnt sich. «reformiert.» hat für dieses Dossier ei­nen Tänzer eingeladen. Er tanz­te und such­te nach Bewegungen, die ausdrücken, was die Gefangenschaft im Körper auslöst: Kontraktion und Enge. Überall spannte er die Muskeln an: im Bauch, im Brustraum und im Hals. Er presste die Zähne zusammen, hielt den Atem an, span­nte Arme und Beine und krümmte sich. Um dann, im Moment der höchsten Anspannung, loszulassen, aufzuatmen und erschöpft in eine Entspannung zu fallen, in der er gefühllos auf dem nackten Boden liegen blieb.

Der erfüllte leere Raum. Der Körper ist eine verlässliche Referenz. Mit ihm leben wir unser Leben. In ihm bildet sich alles ab, was uns bewegt. Und der Körper ist es auch, der uns signalisiert, wenn es zu viel ist. Zu viel Kommunikation, zu viel Arbeit, zu viel Konsum. Dann stellt er auf stur: lässt das Herz rasen und den Kopf dröhnen, verweigert die Verdauung und der Rücken schmerzt. Dann beissen wir auf die Zähne, spannen uns an und geben noch das Allerletzte. Bis gar nichts mehr geht.

Das habe ich selber erlebt. So einsam und gefangen fühlte ich mich nie zuvor. Ich musste reden: mit Freunden, mit dem Hausarzt, mit guten Zuhörern. Ich setzte mich in eine Kirche, einfach so und staunte, wie still es auf einmal war, wie kühl, so dass ich in die Jacke schlüpfen musste. Kein Mensch war da ausser mir und dennoch war der Raum voll. Voll von Zuneigung und Verständnis. Und die Jacke wärmte mich bis ganz nach innen. Ich war so froh.