Schwerpunkt 27. Juli 2017, von Nicola Mohler

«Meine Heimat ist heute ein Freiluftgefängnis»

Gefangen

Der türkische Journalist Yavuz Baydar verliess die Türkei vor einem Jahr. Er sah dort für sich keine Zukunft, wo er nicht frei seine Meinung äussern kann.

«Die Türkei ist für Journalisten, Akademiker und Anwälte ein Freiluftgefängnis geworden», sagt Yavuz Baydar am Telefon. «Neunzig Prozent der türkischen Medien unterliegen der Selbstzensur. Und Selbstzensur bedeutet, sich selbst einzusperren.» Der 59-jährige Türke arbeitet seit 35 Jahren als Journalist.

Er schrieb für die türkischen Zeitungen Yeni Yüzyil, Milliyet, Sabah und Todays Zaman, gründete die unabhängige Medienplattform P24 und war bei CNN Türk sowie TRT-Haber. Heute lebt Baydar ausserhalb der Türkei und schreibt für die englische Zeitung «The Guardian», die Spanische «El Pais» und veröffentlicht in der «Süddeutschen Zeitung» als Gastautor ein türkisches Tagesbuch.

Flucht vor den Barbaren. In den frühen Morgenstunden des 16. Juli 2016 setzte sich der Journalist an seinen Arbeitstisch und überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben. «Der Putschversuch war noch in vollem Gange. Doch bereits jetzt wusste ich, dieser Aufruhr wird unsere Freiheit beeinflussen.»

Für Baydar war klar: Wer auch immer als Sieger hervorgeht, würde als Erstes Journalisten und Akademiker zum Schweigen bringen. «Wollte ich auf die Barbaren warten? Nein!» Baydar könnte sich nicht vorstellen, weiter in der Türkei als Journalist zu arbeiten. Keine 48 Stunden vergingen, und er verliess das Land.

Die Situation sei bereits vor dem Putschversuch sehr schwierig gewesen, sagt Baydar, der auch der erste türkische Medienombudsmann war, im Rückblick. Über 7000 Journalisten hätten seit 2013 ihre Stelle verloren. «Sie hatten kein Einkommen mehr oder kamen ins Gefängnis».

Gemäss der Nichtregierungsorganisation «Reporter ohne Grenzen» gehört die Türkei inzwischen zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Nach dem Putschversuch im letzten Jahr seien über 100 Journalisten verhaftet, etwa 150 Medien geschlossen und mehr als 700 Presseausweise annulliert worden.

Baydar hat auch Kollegen und Freunde dazu ermutigt, das Land zu verlassen. Nicht alle folgten seinem Rat und blieben in der Türkei. «Zwölf Monate nach dem Putschversuch fühlen sich die Menschen in ihrem Land der Freiheit beraubt, sie sind in einer Situation gefangen, aus der sie keinen Ausweg sehen.»

Für Baydar ist Freiheit noch mehr als Selbstbestimmung. «Freiheit bedeutet Hoffnung.» Würde ein Aspekt der Freiheit beeinträchtigt, wie etwa das Recht zu demonstieren, seien auch andere Bereiche schnell davon betroffen.

Endlich wieder Sauerstoff. Nicht nur in der Türkei, auch in Ungarn oder den USA spüre die Bevölkerung die «vergiftete» Atmosphäre, die ihre Freiheitgefährde, sagt Baydar. «Autoritäre Regierungen sind Monster. Sie zerstören alles, was sich ihnen in den Weg stellt.»

Baydar fühlt sich nun als Journalist im Exil nicht mehr gefangen, denn er kann der Tätigkeit nachgehen, die ihm wichtig ist: Er kann berichten und kommentieren. «Ein Journalist ohne das Recht auf freie Meinungsäusserung ist wie ein Wesen ohne Sauerstoff.»