Schwerpunkt 24. März 2021, von Nicola Mohler

«Über Wunder soll man sich wundern»

Geheimnisse des Glaubens

Müssen die Wunder im Neuen Testament erklärt werden? Ralph Kunz verneint. «Wunder regen zum Nachdenken an und loten die eigenen Grenzen aus», sagt der Theologe.

«Als Theologe frage ich mich bei Wundergeschichten, was mir der Autor erzählen will», sagt Ralph Kunz. «Auch wenn das Wunder oft im Zentrum steht, sind alle diese Geschichten immer von einer tiefschichtigen Symbolik begleitet.»

Der Theologe will die erzählten Vorgänge nicht erklären, denn «über Wunder soll man sich wundern». Sie gäben zu denken, weil sie dazu anstifteten, die Grenzen des Denkmöglichen auszuloten. «Die Wunder sprengen unsere Vorstellungskraft. Sie machen Hoffnung auf Gottes Möglichkeiten und lassen die Wirklichkeit im Licht göttlicher Präsenz neu sehen.»

Im Licht göttlicher Präsenz

Natürlich könne man die Wunder rationalisieren und versuchen, sie zu erklären, so Kunz. Doch gerade das kindliche Staunen, das Augenreiben sei das Wunderbare. «Ich selber bin ein rationaler Mensch, doch ich möchte das Fremde, das mir das Wunder eröffnet, zulassen und so meine Vorstellung von meinem eigenen Leben erweitern.»

Kunz verweist auf den vom Philosophen Paul Ricœur geprägten Begriff der «zweiten Naivität». Er zielt auf das Ineinander von Glauben und Zweifel. Nimmt etwas eine Wende zum Guten, lassen wir uns davon überraschen. Es gibt jedoch auch die bösen Überraschungen, die den Zweifel nähren: «Wir entsetzen uns, wie viel Abgründiges oder Brutales im Menschen steckt.» Ralph Kunz nennt als Beispiele menschliche Gräueltaten wie den Holocaust oder Foltermethoden. «Wir benötigen einen kindlichen Glaubenssinn, um menschlich zu bleiben.»

Besonders beeindruckt Kunz die Erzählung von der Heilung des epileptischen Knaben (Mk 9,14–29). «Es ist eine dieser Geschichten, über die man ein Leben lang nachdenken kann.» Im Zentrum stehe nicht die Wundertat: «Es geht um den Glauben.» Nicht die Jünger, sondern der Vater des Knaben sagt den entscheidenden Satz: «Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.» Im Markus­evangelium wird der Wunderglaube umgelenkt – weg vom Mirakel und hin zum Gottvertrauen. 

Das ultimative Wunder

Für Ralph Kunz gibt es ein Wunder, das alle Wunder überstrahlt: die Auferstehung Jesu. «Jesus gerät am Kreuz in eine Situation, in der er als Wundertäter ein Wunder nötig hätte.» Gott entzieht sich am Karfreitag, aber vollzieht mit der Auferstehung an Ostern ein Wunder an ihm.
Gott identifiziert sich mit dem Gekreuzigten. «Eine Tat, die unser Weltbild grundlegend verändert, weil sie Hoffnung auf die neue Schöp­fung stiftet», sagt Kunz. Das sei das Geheimnis des Glaubens: «Trifft ein, was wir hoffen, werden Wunder überflüssig.»

Ralph Kunz ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich.