Schwerpunkt 24. März 2021, von Rita Gianelli

«Ein verblüffend moderner Ansatz»

Geheimnisse des Glaubens

Den Menschen in seiner Unfertigkeit ernst zu nehmen, sei zentral für Heilungswunder, sagt Christina Tuor-Kurth. Und im Vertrauen auf Jesus scheint bereits Heilkraft zu liegen.

Heilungsgeschichten sind grundlegend für das Wirken von Jesus. Am Beispiel der Blindenheilung von Jericho ist es die Kraft des Glaubens, welche die Heilung erst ermöglicht.

Drei Evangelien erzählen davon. Christina Tuor gefällt die Version aus dem Lukasevangelium am besten. «Was willst du, dass ich dir tue?», fragt Jesus den Blinden. «Sehen», lautet die Antwort. Und weil der Bedürftige Jesus zutraut, dass er seinen Wunsch nach Heilung erfüllt, erlangt er das Augenlicht.

Die Wut auf Gott

«Das ist ein verblüffend moderner therapeutischer Ansatz: der Blinde als Experte seines eigenen Problems», sagt Tuor. Die Heilung liegt darin, dem Kranken die Fähigkeit zuzusprechen, dass er in sich Kräfte wecken kann, um Heilung zu ermöglichen. «Dein Glaube hat dich geheilt», sagt Jesus zu dem Blinden. Aber was ist das für ein Glaube? Warum erfährt der Blinde Heilung in der Bibel, aber die junge Mutter, die heute an Krebs erkrankt, nicht?

«Hier ist die Wut auf Gott nachvollziehbar», sagt Tuor. Eine einfache Antwort gebe es nicht. «Ich denke, auch das ist das Geheimnis des Glaubens.» Und diesem Geheimnis trage die katholische Liturgie in der Eucharistiefeier Rechnung, meint die reformierte Theologin, die katholisch aufgewachsen ist. Priester und Gemeinde rufen gemeinsam Jesu Tod und Verletzung an und preisen seine Auferstehung. «Vielleicht führt der Weg zur Heilung zu einem anderen Heilwerden, als wir es uns zuvor vorgestellt haben.»

Ein Bild davon macht sich Tuor nicht. «Mir genügt die Zuversicht, dass ich Heilung erfahren kann.» Mehr braucht sie nicht. Einem Glauben, der alles Wundersame ausklammere, fehle die Würze. Glaube sei nicht nur Ethik und Moral, sondern auch Herausforderung.

Heilung im Sterben

Gesundsein bedeutet laut Definition der Weltgesundheitsorganisation die Absenz von Krankheit und Gebrechen. «Damit wird Gesundheit zu einem Recht», sagt Tuor. Und betont, dass Gesundheit eben mehr sei. «Das menschliche Leben ist nicht ohne Brüche zu haben.»

Gesundheit oder der Weg dahin, die Heilung, bedeutet für die Mutter dreier Söhne – einer von ihnen hat das Down-Syndrom –, dass ein Mensch angenommen ist und darin sich selbst annehmen kann. Als Co-Leiterin eines Pflegezentrums erfährt sie, was Heilung bedeuten kann, wenn Sterbende loslassen, ihr Leben abrunden können. Das sei ein lebenslanger Prozess, um den man kämpfe, mit dem man hadere. «Letztlich geht es darum, die eigene Sterblichkeit anzunehmen, zu wissen, dass alles einmal ein Ende hat. Und dass das gut ist.»

Manche sprechen vom Geheimnis des Lebens, weil es sie an die Abläufe der Natur ermahnt, die zu akzeptieren und zu respektieren sind. «Ob das Geheimnis des Lebens weit weg ist vom Geheimnis des Glaubens, wage ich zu bezweifeln.»

Ihr würde Ersteres aber nicht genügen. Glaube beinhalte mehr als die Mechanismen der Natur. Das Geheimnis liegt für die Theologin in der Beziehung zum Göttlichen, die Sinn im Dasein gebe. «Ich bin nicht nur ein Rätsel der Natur, ich werde gebraucht, ich habe eine Aufgabe in der Welt, diese will ich erfahren, jeden Tag neu.» Dieser Glaube bewirke die Heilung, von der Jesus gesprochen habe.

Der Glaube an die Heilkraft Jesu ist das Korrektiv zum Begriff Gesundheit. «Seine Versehrtheit und Unfertigkeit, gerade das macht einen Menschen würdig.»

Christina Tuor-Kurth ist Titularprofessorin für Neues Testament an der Universität Basel.