Schwerpunkt 14. November 2019, von Cornelia Krause

Sie wollen die Welt mit Hirn statt mit Herz retten

Spenden

Effektive Altruisten möchten Gutes tun. Sie spenden grosszügig, aber rein rational für Projekte, mit denen den meisten Personen geholfen werden kann.

Diskussionen über Kant und Schopenhauer führen oder Ballerspiele am Computer programmieren  – vor diesem Karriereentscheid stand Jonathan Erhardt vor fünf Jahren. Der Schweizer studierte in Oxford Philosophie. Nach dem Abschluss winkte ein Doktorat an der weltberühmten Uni, inklusive Stipendium. Philosophie ist Erhardts grosse Leidenschaft. Doch er entschied sich anders – des Geldes wegen. Nicht etwa, um selbst in Saus und Braus zu leben. «Es ging um die Frage, womit ich mehr verdienen kann, um mehr Geld spenden zu können», sagt Erhardt. Der 36-Jährige sitzt in einem Café in Biel und erzählt vom Gamer-Start-up, das er gegründet hat und das nun erste Erfolge verzeichnet, vom Alltag mit seinen drei Kindern und von den Chancen, die Welt durch Spenden zu verbessern. 

Klein, aber wachsend

Erhardt ist ein Mitglied der Bewegung Effektiver Altruisten (EA). Er hat sich verpflichtet, mindestens zehn Prozent des Firmenumsatzes abzugeben. Im letzten Jahr waren es rund 80 000 Franken. Doch es geht ihm nicht nur um die Höhe der Spenden, sondern auch um die Frage: Wo kann die Spende am meisten bewirken? Es ist ein Kosten-Nutzen-Kalkül. Zum Beispiel: 10 Franken für Moskitonetze gegen Malaria retten mehr Leben als 10 Franken für die Erforschung der seltenen Krankheit ALS, an der etwa der Physiker Stephen Hawking starb. Es geht um eine Verteilung von Ressourcen nach rationalen Kriterien, ohne Herz, nur mit Verstand. Eine Rechnung, in der jedes Menschenleben gleich viel wert ist, egal ob es um das eigene Kind, den Nachbarn oder von Malaria bedrohte Menschen in Asien geht. 

Getragen wird die Bewegung von philosophischen Köpfen wie Peter Singer und William MacAskill. Letzterer hat quasi die Bibel der Effektiven Altruisten geschrieben, sie heisst «Gutes besser tun». Die Bewegung ist noch jung, konkrete Zahlen zu Mitgliedern sind schwierig zu eruieren. Die Facebook-Gruppe der Altruisten im deutschsprachigen Raum zählt mehr als 2000 Mitglieder, die internationale Gruppe gut 17 000. Aus der Schweiz flossen über die Stiftung für Effektiven Altruismus 2018 knapp 1,4 Millionen Franken an EA-Hilfsorganisationen. Das ist wenig im Vergleich zum Gesamtvolumen (Kasten). Doch 2013 waren es erst 84 000 Franken, die Beträge steigen also. 

Bill Gates bestimmt mit

International hat die Bewegung prominente Aushängeschilder wie Facebook-Mitbegründer Dustin Moskovitz. Auch Microsoft-Gründer Bill Gates steht ihr nahe. Seine «Bill & Melinda Gates-Foundation» verteilt Gelder nach ähnlichen Prinzipien. Sie ist die grösste Privatstiftung der Welt und hat seit ihrer Gründung über 45 Milliarden Dollar gespendet. Damit bestimmt Gates die weltweite Agenda der Entwicklungshilfe massgeblich mit. 

Für Jonathan Erhardt ist der Effektive Altruismus eine Lebenseinstellung, die den Alltag beeinflusst. «Wir sind auch deswegen von Grossbritannien in die Schweiz zurückgezogen, weil das Lohnniveau hier höher ist», sagt er. Das ist gut für das Spendenvolumen. Zudem kann die Familie im Haus der Schwiegereltern günstig wohnen. Teure Hobbys pflegen Erhardt und seine Frau nicht. Sie lesen und wandern gerne. Auch schränken sie ihren Konsum ein. Weniger bei kleinen Sachen wie einem Kaffee oder Büchern, eher bei Reisen, Möbeln, Kleidung.

«Der Glücksfaktor beim Konsum wird überschätzt», sagt Erhardt. Die  Forschung belege nämlich, dass in Industriestaaten trotz steigendem Wohlstand das Glücksgefühl der Bevölkerung weitgehend stagniere. Erhardt findet, der Mensch denke stets an die Konsequenzen von Hand-lungen, aber zu wenig daran, welchen Handlungsspielraum er erhält, wenn er bestimmte Dinge nicht tut. Es gibt Altruisten, die neben den alltäglichen Ausgaben und der Berufswahl selbst bei der Familienplanung über der Kosten-Nutzen-Rechnung grübeln. Die Logik: Kinder kosten Geld, das man als Kinderloser auch spenden könnte. 

Erhardt hat drei Kinder, ein «egoistischer Entscheid», wie er sagt. «Aber wir wollen unseren Kindern Werte mitgeben. Sie sollen wissen, dass forschen und entdecken wichtiger sind als konsumieren, kaufen und besitzen.»

Leben als Kalkül 

Kindern Werte mitgeben, Geld für gute Zwecke spenden, grundsätzlich hehre Ziele, wie auch Markus Huppenbauer findet. Er ist Direktor des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik der Universität Zürich. Doch Huppenbauer ist ein scharfer Kritiker der Bewegung. Er sieht sie als Randphänomen, als Moral für einen kleinen elitären Zirkel. Effektiver Altruismus mache aus dem Leben ein reines Kosten-Nutzen-Kalkül, sagt der Theologe. «Der Mensch wird zu einer Art Moralmaschine degradiert, seine eigenen Bedürfnisse geraten in den Hintergrund.» Sprich: Das Selbst ist vor allem wichtig, um zu helfen. 

Huppenbauer stört die Art, wie Effektive Altruisten bisweilen das Nächstenliebe-Gebot auslegen. Zwar propagieren sie den gleichen Wert jedes Lebens. Die biblisch vorgesehene Selbstliebe und die eigenen Bedürfnisse träten aber in den Hintergrund, sagt Huppenbauer. «Die Nächstenliebe schliesst in der Bibel die Freude an einem eigenen Leben nicht aus.» Das Leben bestehe auch aus Genuss, Liebe, Freude an Musik, den Künsten. 

Motivation fürs Spenden

Huppenbauer ist der Ansicht, der Effektive Altruismus mit seinem kühlen Kalkül überfordere die meisten Menschen. «Im Grunde ist der Effektive Altruismus von seinen Ansprüchen her menschenfeindlich.» Nicht nur das Leben nach den Prinzipien der Bewegung, auch das vernunftgetriebene Spenden widerspreche der Psychologie des Menschen. Hilfswerke holten bei den Spendern Sensibilitäten ab, der Mensch wolle für Anliegen spenden, die ihn berührten. So etwa für die Krebsforschung, weil ein nahestehender Mensch an der Krankheit starb, oder für ein Projekt in einem Land, das man selbst bereist hat.  Oder für bedürftige Menschen in der unmittelbaren Umgebung. Bezug nehmend auf die entscheidende Frage «wer ist eigentlich mein Nächster?» führt Huppenbauer das biblische Gleichnis des barmherzigen Samariters an. Ganz spontan sei dieser von der Not des Fremden berührt gewesen und habe Hilfe geboten. «Ein Entscheid der Liebe, nicht der berechnenden Vernunft.»

Wie sehr emotional getrieben das Spendenverhalten ist, zeigen  Crowd-Funding-Fälle wie der einer Doktorandin aus Wetzikon. Mehrere Hunderttausend Franken kamen in wenigen Tagen für eine nicht von der Krankenkasse bezahlte Behandlung zusammen. Sie soll das Fortschreiten einer seltenen Krankheit stoppen, damit die junge Frau weiterhin ihren Finger bewegen kann, um den Rollstuhl zu steuern. Aus Sicht der Effektiven Altruisten absurd, in andere Projekte investiert, hätte die Summe gleich mehrere Leben retten können.

Hilfswerke skeptisch

Überhaupt dürften nach Prinzipien des Effektiven Altruismus in hoch entwickelte Regionen weniger Spendengelder fliessen als in Entwicklungsländer. Jeannette Vögeli, Teamleiterin Institutionelles Fundraising & Philanthropie beim christlichen Hilfswerk Heks, geht davon aus, dass Projekte in der Schweiz kaum mehr unterstützt würden, weil die Gelder bei gleichem Mitteleinsatz weniger Menschen zugute kämen. 

Tatsächlich kommt eine Spende an die Winterhilfe für Jonathan Erhardt nicht infrage. Zwar gebe es auch hierzulande Armut und die Ar-beit der Winterhilfe sei wichtig, sagt er. «Aber in der Schweiz ist das soziale Netz sehr gut. Muss ich mich entscheiden, wohin die Spenden gehen, investiere ich lieber dort, wo das soziale Netz schlechter ist und das Geld mehr Menschen hilft.» Wie viele Effektive Altruisten gibt er sein Geld EA-Fonds, die es nach den Kriterien der Bewegung verteilen. Diese Fonds decken diverse Themen ab, auch eher abseitige, wie das Erforschen von Risiken durch künstliche Intelligenz. Ein Grossteil der Gelder geht jedoch in Hilfsprojekte im Gesundheitsbereich. Die NGO GiveWell, die Entscheidungshilfe beim Spenden leistet, empfiehlt auf ihrer Internetseite acht Organisationen, von denen vier Malaria bekämpfen oder Entwurmungsprogramme unterstützen. Entscheidend ist unter anderem die nachweisliche Effizienz. In dem Zusammenhang verleiht den Effektiven Altruisten die jüngste Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises Auftrieb. Er ging an drei Armutsforscher, die sich mit Entwicklungsökonomie und Wirksamkeitsmessung befassen. 

Langfristige Wirkungsmessung schwierig

Die christlichen Hilfswerke Mission 21 und das Heks stellen einen allzu starken Fokus auf sichtbare kurzfristige Resultate infrage. Zwar betonen beide die Notwendigkeit von Effizienz und deren Evaluation. «Auch wir überprüfen unser Portfolio, stoppen Projekte oder bauen sie aus», sagt Katharina Gfeller, zuständig für internationale Beziehungen bei Mission 21. Insbesondere bei langfristigen Massnahmen sei die Kosten-Nutzen-Messung jedoch nicht einfach zu bewerkstelligen. Das Schwergewicht des Effektiven Altruismus auf Krankheitsprävention greife zu kurz. «Es geht ja nicht nur darum, Leben zu retten, sondern auch Lebensbedingungen langfristig zu verbessern, sprich: sozialen Wandel.» 

Beim Heks heisst es, gemäss dem Konzept des EA würden beispielsweise Projekte zur Friedensförderung oder zur Stärkung der Zivilgesellschaft kaum Gelder erhalten. Jeannette Vögeli übt zudem Grundsatzkritik am utilitaristischen Ansatz dieser Bewegung. «Man kann Men-schenleben nicht einfach gegeneinander aufwiegen.»

Jonathan Erhardt kann mit der Kritik am Effektiven Altruismus leben. Klar fielen gewisse Projekte unter den Tisch, wenn man rein nach dessen Kriterien entscheide. «Aber jede Entscheidung für eine Sache ist eine Entscheidung gegen eine andere. Denn die Ressourcen sind immer begrenzt.» Gewisse Kompromisse hat er allerdings mit sich ausgemacht. Immerhin 20 Prozent seines Erwerbslebens widmet er noch seiner Leidenschaft, der Philosophie. Er unterrichtet sie an einem Gymnasium.

Christlich und Mitglied der EA-Gemeinschaft

Unter den Effektiven Altruisten finden sich auch bekennende Christen. Die Facebook-Gruppe christlicher Mitglieder umfasst mittlerweile rund 550 
Personen. Damit sie sich international noch besser vernetzen, hat der Ökonom und Philosoph Dominic Roser von der Universität Freiburg mit Gleichgesinnten jüngst den Verein «EA for Christians» gegründet. Zwar sei 
der Effektive Altruismus einst säkularen Kreisen entsprungen, sagt Roser. «Aber Altruismus ist in der Bibel zentral.» Entscheidend ist für ihn 
der Dienst am Nächsten. «Das Liebesgebot in Kombination mit den Möglichkeiten des 21.  Jahrhunderts» mach-ten den EA aus. Sprich: die enormen Ressourcen in Industriestaaten, die neue Forschung über die Wirksamkeit von Spenden und die weltweite Vernetzung durch das Internet.

Fonds statt Fairtrade

Roser und seine Frau spenden über ein Zehntel ihres Einkommens – ein 
Grossteil an Hilfswerke, die von der EA-
Bewegung empfohlen werden. Ihm selbst wäre die Armutsbekämpfung das wichtigste Anliegen, sie steht bei 
den EA-Fonds, welche die Spenden verteilen, aber meist nicht ganz oben 
auf der Agenda. EA bedeute, auf gewisse Herzensangelegenheiten zu verzichten, sagt er. «Das ist nicht immer leicht zu akzeptieren. Aber vielleicht ist das ein Opfer, das man aus Liebe für die Menschen, denen das Geld dann zugute kommt, bringen muss.» Angst, selbst zu kurz zu kommen, hat er nicht. «Gott hat bis jetzt mehr als gut zu mir geschaut.» Als Beispiele für tägliche Entscheide über Ausgaben und Spenden nennt er Fairtrade. Den 
Aufpreis für fairen Handel will er nicht zahlen. Er glaubt, den Menschen in 
Armut wirksamer helfen zu können, wenn er dieses Geld in maximal effektive Hilfswerke steckt. Auch an 
Bettlern geht er vorbei. «Das ist oft schwer, aber es geht darum, ohne schlechtes Gewissen dort zu spenden, wo die Not am grössten ist, nicht 
dort, wo sie gerade eben sichtbar wird.» An Vorträgen versucht Roser, die 
Zuhörer vom Effektiven Altruismus zu überzeugen . «Ich möchte, dass das Konzept nicht nur eine kleine, elitäre Gruppe anspricht, sondern die Normalbevölkerung.» 

Schweizer spenden rund 1,8 Milliarden

Die Schweizerinnen und Schweizer spenden grosszügig. In den letzten Jahren pendelten sich ihre Spenden für Hilfswerke auf hohem Niveau bei rund 1,8 Milliarden Franken jährlich ein, 
wie aus Zahlen der Zewo (Schweizerische Zertifizierungsstelle für gemeinnützige, Spenden sammelnde Organisationen) hervorgeht. Im Rekordjahr 2017 erreichten sie gar 1,85 Milliar-
den Franken. Gut die Hälfte der Spenden stammt von privaten Haushal
ten. Die Zewo zertifiziert Hilfsorganisationen und schaut etwa wie viele 
Mittel in Administration und Werbung fliessen und welcher Anteil für konkrete Projekte verwendet wird. Auch fordert sie von den Hilfswerken Mechanismen zur Wirkungsmessung. Diese gehen Effektiven Altruisten aber nicht weit genug. Im Gegensatz zur EA-
Bewegung empfiehlt die Zewo beim Spenden explizit «dem Herzen zu folgen» und für Anliegen Geld zu ge-ben, die einem wichtig sind. Zudem sei es sinnvoll, Organisationen längerfristig zu unterstützen.