Schwerpunkt 15. September 2020, von Christa Amstutz Gafner, Delf Bucher

Sport ist seine Therapie gegen die inneren Abgründe

Sport

Cricket war schon in Afghanistan die Leidenschaft von Idris Ayubi. In der Fremde ist das Spiel dem Jugendlichen zum Rettungsanker geworden.

Unerbittlich brennt die Augustsonne auf das ovale Cricketfeld der Sportanlage Deutweg. Idris Ayubi kauert am Rand im Schatten des Ahornbaumes. Vor einem Monat hat er sich erstmals das rot-weisse Tenü des Cricketclubs Winterthur mit der Nummer 31 übergezogen. Cricket ist dem Paschtunen vertraut. «Wir haben das auf der Strasse in unserem Dorf gespielt», sagt er. Auch wenn auf einer staubigen Strasse in Afghanistan beim Cricket kein strenger Schiedsrichter wie jetzt bei dem Meisterschaftsspiel in Winterthur über die Regeln wacht und beim Gassenkricket die komplizierten Vorschriften kaum eine Rolle spielen: Idris kennt gleichwohl die verzwickten Bestimmungen. «Cricket, das war bei uns ein Profisport », sagt er in perfektem Deutsch. Stundenlang übertrug das Fernsehen die Spiele.

Das Trauma der Flucht

Seit elf Monaten ist der 17-Jährige in der Schweiz. Erstaunlich schnell hat er Deutsch gelernt. Denn er will in der Schweiz bleiben. Und er weiss: Selbst wenn er nur 40 Franken Taschengeld in der Woche bekommt, darf er nicht mit krummen Touren versuchen, an mehr Geld zu kommen. «Wenn ich jetzt keinen Mist baue, dann habe ich in fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht.» Sportlich aktiv, sprachlich gut unterwegs:Das sieht nach einem gelungenen Ankommen in der Fremde aus. Aber je länger Idris erzählt, desto mehr tun sich im Gespräch biografische Abgründe auf. Vor einem Jahr wurde er auf der Flucht in der Türkei bei einer nächtlichen Polizeirazzia von seiner Familie getrennt. «Ich habe seitdem nichts mehr von ihnen gehört», sagt er, und die Augen unter den buschigen Brauen glänzen feucht. Wie sehr diese Trennung ihn bis heute schmerzt, ist spürbar. Es ist ein Glück, dass seine seelische Not bei der Odyssee durch die Asylinstitutionen der Schweiz erkannt wurde. Heut lebt er in der Winterthurer Modellstation Samosa, die auf Jugendliche mit posttraumatischen Belastungsstörungen spezialisiert ist. Idris zückt jetzt sein Handy und klickt ein Foto an. Darauf ist zu sehen, wie er, in eine dicke Jacke gehüllt, vor einer afghanischen Winterlandschaft sitzt. Aufgenommen wurde das Bild am Tag, bevor die Familie floh. Der Grund: die Ermordung der Grossmutter und eines Onkels durch die Taliban. Auf einem anderen Bild stemmt Idris nach einem Volleyball-Turnier in seiner Heimat den Pokal in die Höhe. «Ich liebe Sport», erklärt er. Letzten Winter war er an einem Wochenende im Bündnerland Ski fahren. «Nach zwei Tagen ging es schon recht gut», sagt er stolz. Sport begeistert ihn. Sport ist für ihn aber gleichsam Therapie, um nicht weiter den düsteren Episoden seines noch jungen Lebens nachzuhängen. Auf dem Cricketfeld vergisst der junge Afghane für einige Stunden die Bilder von seiner verlorenen Heimat, vom Bürgerkrieg und vor allem von der schmerzhaft vermissten Familie. Sport bietet ihm auch ein soziales Netz, mit dem er neue Kontakte ausserhalb seiner Betreuungsinstitution knüpfen kann. Cricket ist für Idris die Chance, in der Schweiz heimisch zu werden.