Christoph Kohler, Sie fahren mit Ihren Skiern extreme Steilwände hinunter. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie unterwegs sind?
Christoph Kohler: Ich bin maximal konzentriert, denn der kleinste Fehler könnte dramatische Folgen haben. Sämtliche Sinnesorgane schalten auf Überlebensmodus: Es ist, als ob meine Füsse durch die Skischuhe jede Unebenheit des Bodens spürten. Ich nehme Gerüche wahr, die für mich vorher nicht existierten. Meine Wangen sind wie Aussensensoren, die auf Temperatur und Wind reagieren. Der Einstieg in die Abfahrt ist am schwierigsten. Sobald ich aber den ersten Schwung gemacht habe, weiss ich: Jetzt kommt es gut, die monatelange Vorbereitung hat sich gelohnt.
Herr Maurer, finden Sie zu riskant, was Herr Kohler macht?
Theo Maurer: Risiko definiert jeder anders. Für mich nehmen die, die mit dem Wingsuit den Berg hinunterstürzen, das grössere Risiko in Kauf, als das Herr Kohler tut.
Kohler: Ich bereite mich monatelang vor und halte mich an das Motto, das Können ist des Dürfens Mass. Bisher musste ich noch nie gerettet werden. Vielleicht schützen mich meine Vorbereitungen. Vielleicht hatte ich bisher auch bloss Glück.
Maurer: Wenn ich von Risiko spreche, gibt es zwei Aspekte: einerseits die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert. Diese kann man durch Ortskenntnisse, gute physische und mentale Vorbereitung, das passende Material und die richtige Einschätzung der Verhältnisse vor Ort deutlich reduzieren. Nicht beeinflussen kann man aber das Ausmass des Schadens. Wenn etwas passiert, sind die Folgen immer unberechenbar. Es gibt Fälle, da überlebt einer einen Sturz aus zehn Metern Höhe. Ein anderer aber stirbt, wenn er nur vier Meter runterfällt.
Werden Rettungseinsätze wegen zu hohem Risiko abgebrochen?
Maurer: Ja, das kommt vor. Ich erinnere mich an einen Einsatz am Morgenhorn. Eine Seilschaft fiel dort in eine Gletscherspalte. Die Einsatzkräfte waren mit der Bergung beschäftigt, als am Gipfel ein riesiges Stück Eis abbrach und den Berg hinunterdonnerte, nur knapp an den Rettern vorbei. Der Einsatz wurde umgehend abgebrochen, obwohl die zweite Person noch in der Gletscherspalte war und man nicht wusste, ob sie noch lebte.
Konnte man sie später bergen?
Maurer: Nach etwa einer Woche kehrten Retter zum Unfallort zurück. Um diese vor weiteren Eisschlägen oder Lawinen zu schützen, flog der Heli eine Holzkonstruktion hoch, die über der Gletscherspalte abgesetzt wurde. So konnten die Retter das zweite Opfer tot bergen, ohne selbst von einer Lawine verschüttet zu werden.
Was ist für Sie das Schwierigste bei Ihren Einsätzen?
Maurer: Wenn ich im Büro arbeite oder mit der Familie am Wochenende zu Hause grilliere, kann es sein, dass ich bei einem Alarm fünfzehn Minuten später in der Eigernordwand stehe. Normalerweise dauert dieser Aufstieg sieben Stunden. Genug Zeit also, um sich an die Verhältnisse anzupassen. Mit dem Helikopter werde ich buchstäblich hochkatapultiert und muss mir vor Ort sofort einen Überblick über mögliche Gefahren verschaffen.
Kohler: Kommt es vor, dass sich Gerettete beschweren, es habe zu lange gedauert, bis jemand da war?
Maurer: Das habe ich schon erlebt. Überhaupt erfahren wir wenig Dankbarkeit. Aber das erwarte ich auch nicht. Ich mache meinen Job. Erstaunlich ist einfach, welch hohe Erwartungen man in der Schweiz an das Rettungspersonal hat. Viele meinen, alles sei möglich. Aber es gibt nun mal Fälle, in denen wir Vermisste nicht finden.
Die Schweizer Luftrettung hat einen enorm guten Ruf. Zu Recht?
Maurer: Ja, die Schweiz ist im europäischen Vergleich eindeutig Spitzenklasse. Wir fliegen nachts Rettungen auf 4000 Meter Höhe. Das macht uns so schnell keiner nach. Ausländische Organisationen staunen, was die Schweizer Luftrettung alles kann. Viele fliegen nachts gar nicht. Hierzulande aber werden hochkomplexe Rettungen zunehmend zur Selbstverständlichkeit.
Das kostet. Wer bezahlt dafür?
Maurer: Im Normalfall zahlt die Krankenkasse oder die Unfallversicherung. Mehrkosten für Gönner übernimmt normalerweise die Rega. Wenn beispielsweise eine Frau befürchtet, ihrem Mann, der Kristalle suchen war und sich dann noch ein Feierabendbier in der Beiz gönnt, sei etwas zugestossen, dann kann eine Suchaktion teuer werden. Dann zahlt weder die Krankenkasse noch die Unfallversicherung. Die Rechnung geht in solchen Fällen immer an die gesuchte Person, nicht an jene, welche die Rettungskräfte angerufen hat. Einer gesuchten Person, die Gönner der Rega ist, werden diese Kosten normalerweise erlassen.
Wie gehen Sie damit um, wenn Sie jemanden nicht retten können?
Maurer: Das ist immer schwierig. Besonders, wenn wir Patienten in Sichtweite haben, wegen zu grossen Risiken wie Lawinengefahr aber nicht zu ihnen gelangen. Da ist es hart, Nein zu sagen. Aber bei allen Einsätzen hat die Sicherheit der Retter Vorrang. Es mag brutal klingen, aber wenn es um Leben und Tod geht, ist einem das eigene Leben am nächsten. Das ist auch bei uns Rettungskräften nicht anders.
Vor einem Jahr hatten Sie, Herr Kohler, einen schweren Unfall. Haben Sie zuviel riskiert?
Kohler: Nein, bei einer eigentlich ungefährlichen Abfahrt stürzte ich und schlug mit dem Kopf auf einen Stein. Es hatte wenig Schnee. Dank dem Helm hatte ich nur eine Hirnerschütterung. Meine Schulter aber wurde buchstäblich zertrümmert. Ich hatte an jenem Tag schon ein schlechtes Gefühl, als ich mir die Ski anschnallte. Bis heute ärgere ich mich, dass ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört habe und sofort umgekehrt bin. Nach über neun Monaten Rehabilitation werde ich nun bald wieder auf den Skiern stehen und hoffe, mich zum ersten Schwung zu überwinden.
Haben Sie Angst?
Kohler: Ein wenig, ja. Aber Angst zu haben, ist gefährlich. Sie stört die Konzentration. Man verkrampft sich und macht Bewegungen, die man normalerweise nicht macht.
Maurer: Hat jemand Angst, muss er sein Vorhaben unbedingt abbrechen. Angst ist ein schlechter Ratgeber, weil sie die Aufmerksamkeit einschränkt. Was es hingegen in jeder Situation braucht, ist Respekt.
Kohler: Und, auch ganz wichtig, Demut. Das habe ich von vielen erfahrenen Bergführern auf all meinen Touren und Besteigungen gelernt.
Welche Ausrüstung haben Sie bei Ihren Touren mit dabei?
Kohler: Ein Lawinenverschüttungsgerät, eine Sonde und eine Schaufel. Eine Säge für die Schneeproben, einen Helm, zwei Pickel, Steigeisen, einen Klettergurt, Eisschrauben, entsprechende Karabiner und Seile. Beim Freeriding trage ich einen Lawinenrucksack mit Airbag.
Können Sie damit mehr riskieren?
Kohler: Nein. Ich breche jede Tour ab, wenn das Risiko zu hoch ist. Als wir beispielsweise im Juni 2016 in der Ostwand des Matterhorns waren, mussten wir nach einer Stunde Aufstieg umkehren. Wir realisierten, dass der Schnee zu wenig hart war. Das ist gefährlich, und ein solches Risiko gehe ich nicht ein.
Maurer: Ich glaube aber, dass Airbag-Rucksäcke vielen jungen Freeridern ein falsches Sicherheitsgefühl vermitteln.
Gibt es deswegen mehr Unfälle?
Maurer: Nein, die Unfälle haben prozentual gesehen nicht zugenommen. Es bewegen sich einfach mehr Menschen in den Bergen. Ich beobachte aber, dass immer häufiger die Schuldfrage gestellt wird. Es ist keine gute Entwicklung, dass immer und überall nach Schuldigen gesucht wird. Folglich wird immer mehr reguliert. Das finde ich falsch. Wer ein Risiko eingeht, soll das tun dürfen. Auch im Extremsport braucht es diese Freiheit.
Hat sich Ihr Verhältnis zum Risiko über die Jahre verändert?
Kohler: Ja, es gibt Hänge, die würde ich nicht mehr hinunterfahren. Etwa die Nordwand des Bec des Rosses in Verbier. Dort sehe ich zu viele objektive Gefahren.
Maurer: Auch ich habe früher Dinge gewagt, die ich nicht mehr machen würde. Das hat wohl mit dem Alter zu tun. Ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Dazu kommt, dass ich in den 25 Jahren als Bergretter zu viele Unfälle und Todesfälle gesehen habe. Das prägt.
Wirken sich die Erfahrungen auf den Umgang mit Ihrer Familie aus?
Maurer: Ich verabschiede mich jeden Tag ganz bewusst von meiner Frau. Auch wenn ich um fünf Uhr früh das Haus verlasse, wecke ich sie und gebe ihr einen Kuss. Ein Bergführerkollege ist bei einem Einsatz tödlich verunglückt. Seine Frau leidet bis heute darunter, dass sie sich an jenem Tag nicht richtig voneinander verabschiedet haben.
Kohler: Ich würde nie auf eine Skitour gehen, wenn ich vorher einen Streit nicht aus dem Weg geräumt habe. Zu sehr prägte mich die Geschichte eines Jugendlichen, der nach einem Streit mit der Mutter wütend freeriden ging und in einer Lawine starb. Die Mutter hat sich diesen Streit nie verziehen.