Schwerpunkt 23. September 2020, von Nicola Mohler

Vielfalt auf allen Ebenen macht den König der Früchte besser

Apfel

Niklaus Bolliger züchtet seit 20 Jahren Apfelsorten, die weniger Pflanzenschutz benö­tigen. Vielfalt und individuelle Produktion beeinflussten den Geschmack der Äpfel, sagt er.

«Ich weiss, weshalb ich keine Kartoffeln züchte», sagt Niklaus Bolliger. Der 2,02 Meter grosse Apfelzüchter streckt sich, pflückt einen Apfel vom obersten Ast und beisst hinein. Es knackt und saftet. «Dieser Apfel ist ein bisschen unförmig, aber geschmacklich ausgezeichnet.»

Bolliger hält einen Apfel aus ei­ge­ner Zucht in den Händen: Brigitte B. Eigentlich trägt der Apfel den Zuchtnamen BB53. Als ein Kunde aber auf dem Markt vor der mit BB53 angeschriebenen Apfelkiste auf die französische Schauspielerin Brigitte Bardot verwies und bemerk­te, dass das auch als BB bekannte Model nicht Jahrgang 1953, sondern 1934 habe, war der Name für die neue Sorte geboren.

Für Brigitte B kreuzte der 65-Jährige Bolliger die neuseeländische Sorte Braeburn mit dem Apfel Ariwa, der vor 30 Jahren in Wädenswil gezüchtet worden ist. Aus vielen Nachkommen derselben Kreuzung ist nichts geworden. «Von 10 000 aus­gesäten Samen ergeben sich vielleicht ein oder zwei potenzielle Sorten», sagt Bolliger.

Sieben Jahre vergingen, bis der Züchter einen Apfel in den Hän-den hielt, der ganz nach seinem Ge­schmack ist: bissfest, knackig und saftig. «Doch für den Verkauf stellt sich dann die wichtige Frage, wie lange der Apfel diese Eigenschaften behält.» Ob es ein Apfel auf den Markt schafft, hängt auch davon ab, wie er an anderen Standorten gedeiht. Die Haltbarkeit spielt ebenfalls eine Rolle und die Anfälligkeit der Bäume und Früchte auf Krankheiten. Und wie schnell ein Apfel beim Lagern eine braune Delle vom Druck anderer Früchte bekommt.

Sensoren in den Fingern

Bolliger ist einer von drei Apfelzüch­tern in der Schweiz. Auf seinem Bio-­Hof Rigi im solothurnischen Hessigkofen stehen auf einer halben Hektare 65 Hochstamm-Apfelbäume und rund 3000 kleinere Zuchtbäume. Seine Frau Regula ist verantwortlich für den Gemüseanbau. Das Ehepaar hält zwölf Mutterkühe sowie Schafe und Hühner. Ihre Produkte verkaufen sie direkt auf dem Markt. Rund 10 bis 12 Tonnen Äpfel verwertet Bolliger jährlich, neben dem Marktstand beliefert er zwei Geschäfte und eine Kita.

Bolliger sitzt am langen Holztisch vor dem prächtigen Bauern­hof. Nebenan plätschert der Brunnen, Hündin Zefa gibt zu verstehen, dass sie gestreichelt werden will. Bolliger bittet einen Angestellten, für den Markt zwei Glasballone mit frisch gepresstem Most in PET-Flaschen abzufüllen. Früchte, die sich nicht für den Verkauf eig­nen, werden gemostet, zu getrockneten Apfelringli verarbeitet oder den Tieren verfüttert. Neben dem Ehe­paar Bolliger arbeiten drei Lehr­linge und zwei Angestellte mit.

Ganz egal, ob im Frühsommer die Früch­te an den Bäumen ausgedünnt werden, oder in der Haupterntezeit von September bis Oktober die Äpfel gepflückt werden: Alles ist Hand­arbeit. Nach einer ersten Ernte erfolgt etwa fünf Tage später die grosse Ernte, anschliessend werden noch die restlichen Äpfel gepflückt. Die Handarbeit verlangt Geschick und Wissen. «Die Arbeiter müssen Sensoren in den Fingern haben, denn sie müssen alle Früchte ernten, die reif sind, also den optimalen Zeitpunkt erwischen.» Möglichst rasch nach der Ernte kommen die Äpfel in die Kühlräume, wo bei eins bis sechs Grad der Reifeprozess gestoppt wird. So kann Bolliger seine Sorten bis Ostern lagern und auf dem Markt verkaufen.

Zwei Wochen früher reif

Mit der diesjährigen Ernte ist der vierfache Vater zufrieden. Im Gegensatz zum letzten Jahr gab es in der Blütezeit keinen Frost. «Die ersten Sorten werden im Durchschnitt schon zwei Wochen früher reif, als das noch vor 30 Jahren der Fall war», sagt Bolliger. Je früher die Bäume Blüten haben, desto grösser ist die Gefahr von Frostschäden.

Bolliger steht in einem der vier Kühlräume. Neben ihm stapeln sich 24 Gebinde Primerouge-Äpfel. Noch hat es im Lagerraum Platz, was sich in den nächsten Wochen ändern wird. Von Oktober bis Ostern werden die Früchte in den Kühllagern umgepackt und für den Markt parat gemacht. «Nicht meine Lieblingsbeschäftigung.» Viel lieber ist er draussen und schneidet Bäume. «Da kann man sich vorstellen, wie die Apfelbäume im nächsten Jahr wachsen werden.»

Bei schlechter Ernte nur 3000 Samen

Bäume schneidet Bolliger meist im Winter. Ebenso sät er im November und Dezember jeweils die im selben Jahr gewonnenen Apfelsamen in Saatschalen aus. Im letzten Jahr mit schlechter Ernte waren das 3000 Samen, im Jahr vorher noch 8000. Der passionierte Kontrabassist war schon immer von der Apfelzucht fasziniert. Seit 20 Jahren züchtet er selber. «Ich hätte viel früher damit anfangen sollen.»›

Aus seinem Büro, in dem zwei Arbeitsplätze mit Computern und ein Büchergestell stehen, holt Bolliger jetzt eine silbernes Tablett mit Apfelsamen, die er am Vortag geerntet hat. Eine Handvoll Samen lässt er durch seine langen Finger rieseln. «Je länger man Apfel züchtet, desto spannender wird es.»

Nun setzt sich Bolliger wieder an den langen Holztisch. Der hauseigene Most in den Gläsern zieht Wespen an. Auf seiner Plantage sieht kein Baum wie der andere aus. «Ich will nicht eine industrielle, sondern eine individuelle Produktion.»

Bolliger ist überzeugt, dass sich Vielfalt auf die Qualität der Früchte auswirkt, und fügt an, dass heute auch Bioäpfel industriell hergestellt werden in gleichförmigen Anlagen mit wenig Biodiversität. Neben den zwölf angebauten Apfelsorten ex­pe­rimentiert Bolliger mit weiteren 300 potenziellen Sorten. Die Di­versität vermindert die Gefahr von Krankheiten, die sich in Monokulturen schneller ausbreiten.

Äpfel statt Schwefel riechen

Ein Ziel Bolligers ist es, Apfelsorten zu züchten, die weniger Pflanzenschutz benötigen. Dazu hat er den Verein Poma Culta gegründet, der die Forschung von biodynamischem Obstbau fördert. «Man kann aber nicht von einem Tag auf den anderen ganz auf Pflanzenschutz verzichten», sagt Bolliger, der nur einen Teil des vom Biolabel zugelassenen Pflanzenschutzes einsetzt.

Aus Überzeugung verzichtet Bol­liger auf Kupfer. Auch Schwefel kommt nicht zum Einsatz, obwohl er biologisch weniger bedenklich ist. «Ich will einfach nicht, dass es nach Schwefel stinkt, wenn ich zu den Bäumen gehe.» Viel lieber hat Bolliger den Apfelduft in der Nase. Zudem ist Schwefel sehr effizient. Und Bolliger arbeitet mit weniger effizienten Mitteln, weil er die robusten Sorten finden möchte.

Die falschen Anreize

In der Schweiz gab es einmal 1500 Apfelsorten, erzählt Bolliger. Vor 100 Jahren konzentrierte man sich auf Sorten, die ökonomisch am interessantesten, aber oft wenig robust waren, was mit Pflanzen­schutz­mit­teln kompensiert wurde. «Man hat immer schon alles gemacht, damit der Kunde schöne Äpfel im Gestell hat.» Von der grossen Auswahl von damals kennt man heute etwa noch Gravensteiner, Boskoop oder die Berner Rose. «Hätte man damals keine Spritzmittel gehabt, wären an­dere Sorten gezüchtet worden, und wir hätten heute ebenfalls schöne und robuste Äpfel.»

In den Gestellen der Grossverteiler landen nur die unversehrten Äpfel. Solche mit Schorf oder einem anderen ästhetischen Makel schaffen es nicht in den Verkauf. «Diese Normierung führt auch zu ­einer geschmacklichen Einfalt», sagt Bolliger. Deshalb ist ihm der ­direkte Kundenkontakt auf dem Markt wich­tig. «Da kann ich die Kunden und Kundinnen individuell nach ihren geschmacklichen Vorlieben bedienen und ihnen die Geschichte des Apfels erzählen.»

Bolliger wünscht sich, dass die Viefalt der Äpfel und der damit einhergehende Geschmacksreichtum von bis zu 400 Aromen wieder ins Bewusstsein der Konsumentinnen und Konsumenten gelangt. Und natürlich träumt er davon, dass es ­eine Sorte seines Labels Poma Culta auf den Markt schafft.

Vom Samen bis zum tragenden Apfelbaum

Die Apfelblüten werden für die Kreuzungen von Hand bestäubt. Danach werden die Apfelsamen ausgesät. Zwei Jahre dauert es, bis die Apfelbäumchen stehen, die dann auf­grund ihrer Wuchseigenschaften und der Pflanzengesundheit selektiert werden. Die besten werden als Spindel erzogen. Das ist eine kleine Baumform, die das Schneiden und Ernten ohne Leiter erlaubt. Die Spindelbäume werden aufgrund ihrer Eigenschaften während weiterer Jahre auf Krankheiten, Ertrag und Geschmack sowie Lagerverhalten der geernteten Äpfel getestet. Bis ein Apfel neu auf den Markt kommt und als Sorte gemeldet werden kann, vergehen rund 15 Jahre.