Zwei tanzende Schwalben im Morgenlicht

Früh am Morgen

Im diffusen Licht der Morgendämmerung vollzieht sich ein kaum fassbarer Übergang. Er ermöglicht zuweilen Erkenntnisse, deren Trag­weite erst im Rückblick offenbar werden.

Mein Vater starb am frühen Morgen. Nach dem Schlaganfall einige Tage Tage zuvor war er teilweise gelähmt. Er lag im Bett, hielt die Augen geschlossen und atmete: gleich­mässig und mühelos. Er sprach nicht mehr und wirkte, als hätte er sich entschieden, diese Welt zu verlassen. Als Pflegefall weiterleben, nein, das wollte er ganz of­fensichtlich nicht.

Zwei Tage und Nächte sassen meine Geschwister und ich abwechslungsweise am Bett. Wir befeuchteten die Lippen des Sterbenden, berührten ihn auf Anraten der Pfle­gefachfrauen nicht mehr und warteten mit ihm auf den Tod.

Der Blick in den Himmel

Am Morgen des dritten Tages, es wurde gerade hell und erste Vögel waren zu hören, öffnete mein Vater auf einmal die Augen und blickte durch das Fenster in den Himmel. «Was siehst du?», fragte ich und glaubte schon, er würde nun vom hellen Licht berichten, von dem gesagt wird, dass Sterbende es oft sehen. Doch mein Vater meinte: «Die Vögel, schau, wie sie fliegen.»

Tatsächlich drehte ein Schwalbenpaar seine Runden. Es glitt im Dämmerlicht dahin und schickte seine Rufe durch die Morgenstille. Sein Leben lang hatte mein Vater es geliebt, die Schwalben zu beobachten, und ich wollte in dem Augenblick von den Nestern, die sie einst in unserem Garten gebaut hatten, erzählen, als ich bemerkte, dass kein Atemgeräusch mehr zu hören war.

Mein Vater starb am frühen Morgen, und ich war enttäuscht. Ich hatte den Moment des Sterbens verpasst, erkannte den Zeitpunkt nicht, als er die Grenze vom Leben in den Tod überschritt.

Wann fängt das Sterben an?

Oder gibt es diese Grenze vielleicht gar nicht? Was hatte ich denn erwartet? Wann fing sein Sterben an? Und war er wirklich schon weg, als er nicht mehr atmete, sein Herz nicht mehr schlug? Ist der Prozess des Sterbens am Ende wie der Übergang vom Tag zur Nacht, der nie scharf abzugrenzen ist, sondern irgendwann in der Zeit der Dämmerung unbemerkt stattfindet? Physikalisch betrachtet ist die Dämmerung jener Zeitraum an einem Tag, in dem das gestreute Licht der Sonne sichtbar ist, die Sonne selbst aber bereits unter den Horizont gesunken ist. Morgens endet sie, wenn der obere Rand der Sonnenscheibe erscheint, am Abend, wenn er verschwindet.

Während die blutrote Abendsonne über dem dunkler werdenden Horizont ein beliebtes Fotosujet ist, verpassen viele Menschen das morgendliche Dämmerlicht. Eine Welt, die anders aussieht als jene im hellen Sonnenschein: das Licht diffus, die Konturen unscharf, Bäume, Häuser und Menschen weichgezeichnet. Die Wahrnehmung geht schwebend in alle Richtungen, und in kurzen Augenblicken scheint auf, was sonst verborgen bleibt.

Nichts deutete darauf hin, dass er sich in diesem Moment vor etwas fürch­tete. Im Gegenteil, er schien entschlossen, das letzte grosse Abenteuer anzugehen.

Auch die Ostergeschichte erzählt von rational schwer zu fassenden Momenten, die in der frühmorgendlichen Dämmerung stattfinden. So steht etwa Maria von Magdala am leeren Grab und weint. In der Nähe sieht sie einen Mann ste­hen. Sie hält ihn für einen Gärtner und fragt ihn, wo der Leichnam Jesu sei. Da spricht er sie an: «Frau, was weinst du?» (Joh 20,15). Erst jetzt erkennt sie den Auferstandenen an seiner Stimme.

Auch die beiden Jünger, die von Jerusalem zurück nach Emmaus unterwegs sind, erkennen den Wanderer, der sich zu ihnen gesellt, nicht. Abends erst, als der Fremde zum Gastgeber wird und für sie das Brot bricht, realisieren sie, wer in ihre Mitte gekommen ist.

Und dann ist Christus schon «nicht mehr zu sehen» (Lk 24,31).

Toxische Vaterfigur

Mein Vater starb friedlich an jenem frühen Morgen. Er, der uns Kindern gegenüber streng war, fordernd und kritisch. Er, der von sich selbst sagte, er habe uns erzogen wie auf dem Kasernenhof.

Er, der es vom Bauernbuben zum Major gebracht hatte, eine Firma vor dem drohenden Bankrott rettete und das Klima in der Familie mit seinem übermässigen Alkoholkonsum vergiftete. Er, dessen Jähzorn ich stets fürchtete. Ebendieser Mann zeigte in den letzten Stunden seines Lebens ein ganz anderes Gesicht: Er war ruhig, fokussiert auf sich, seinen Weg und hatte etwas Würdevolles.

Ein Mann, der nach einem langen, dichten Leben alles loslassen musste. Nichts mehr ändern oder ergänzen konnte, vor der gren­zenlosen Ungewissheit stand, die der Tod vor ihm ausbreitete. Nichts deutete darauf hin, dass er sich in diesem Moment vor etwas fürch­tete. Im Gegenteil, er schien entschlossen, das letzte grosse Abenteuer anzugehen.

Wie die Jünger neben Christus gingen, wanderte ich neben mei­nem Vater her, ohne ihn zu erkennen.

Ich war verwirrt. Ich hatte nicht nur seinen Todeszeitpunkt verpasst, ich hatte es auch verpasst, zu seinen Lebzeiten etwas anderes in ihm zu sehen als den strengen, unberechenbaren Vater. Wollte nichts hören von seiner Jugend in armen bäuerlichen Verhältnissen, von seinem Kampf um Anerkennung in einer Welt, in der Aufsteigern wie ihm viele Steine in den Weg gelegt wurden. Zeigte kein Interesse an seiner Zeit im Aktivdienst. Fragte nie, was er dort erlebt hatte. Nicht einmal, als er als älterer Mann erwähnte, er träume oft vom Militärdienst, von Angst, Druck und Demütigungen.

Vom Mut, zu leben

Wie die Jünger neben Christus gingen, wanderte ich neben mei­nem Vater her, ohne ihn zu erkennen. Erst als er schweigend dalag und ruhig atmend auf den Tod zusteuerte, empfand ich das, was seither stärker ist als alle Bitterkeit: Dieser Mann hat sich den Anforderungen seines Lebens gestellt, er hat eingesteckt und ausgeteilt. Hat Verantwortung übernommen, Liebe geschenkt und Fehler gemacht. Und er hat Mut gemacht: Mut, zu leben.

Mein Vater starb am frühen Morgen. Er warf einen flüchtigen Blick in den noch dämmrigen Himmel und sah dem tanzenden Schwalbenpaar zu, wie es seine Runden drehte, und staunte, nur ein paar wenige Sekunden lang, wie unfassbar kostbar das Leben doch ist.