Schwerpunkt 27. September 2022, von Joya Ducceschi, 16 Jahre

Hinter den Stäben schrumpft die Hoffnung

Junges Literaturlabor

Und schon wieder ein Tag. Einer wie jeder andere, einer von vielen anderen. Und wieder habe ich eine Nacht in Kälte und Nässe überstanden. Ich bin jedoch nicht der Einzige.

Ich lebe mit Millionen von anderen hinter Gittern, in einer Anstalt, die es eigentlich nur gut mit uns meint. Doch gehören wir hinter Stäbe? Die morgendlichen Sonnenstrahlen erhellen unsere Käfige und ihr Licht spiegelt sich glitzernd in den Pfützen, die sich vor unseren hölzernen Hütten durch den Regen gebildet haben. Ein neuer Tag. Neue Hoffnung?

Hoffnung. Welch grosses Wort. Welch Wort mit grossen Träumen für manche von uns.

Da kommt er. Der Mensch. Mit schweren Schritten schreitet er entlang der Stäbe, der tausend Stäbe. An uns vorbei. Der jüngste Insasse fängt freudig an zu rufen und sich im Kreis zu drehen. Hat er die Hoffnung, selbst wenn sie noch so klein ist, noch nicht aufgegeben? Die Hoffnung, dass er eine Familie findet, die ihn liebt, oder besser gesagt, dass eine Familie ihn findet?

Hoffnung. Welch grosses Wort. Und welch Wort mit doch keinerlei Bedeutung für viele von uns.

Der leere Blick des Alters

Der Alte sitzt in der hinteren Ecke. Sein langes, verfilztes und struppiges Haar schlingt sich durch die kalten Stäbe hinter ihm, und sein Blick starrt in die Leere. Acht Jahre zählt er. Acht Jahre hinter den tausend Stäben. Kein Wank, keine Reaktion, keinen Blick richtet er auf die an seinem Käfig stehende Gestalt. Hat er die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder jemanden zu finden, der ihn liebt und sich um ihn sorgt? Hat er die Hoffnung aufgegeben, dass sich die Stäbe öffnen und sich ihm die Welt dahinter offenbart?

Hoffnung. Welch grosses Wort. Und welch Wort mit Abhängigkeit.

Vorbei geht der Mensch, an Tausenden von Stäben, an Tausenden von Augen, die ihn verfolgen. Augen, die wissen, wie gross die Abhängigkeit von ihm ist. Nur er kann die Stäbe öffnen, die Welt öffnen, die Hoffnung erfüllen. Er entscheidet, ob die Stäbe verschwinden, weil unsere Hoffnung erhört wurde, oder ob die Stäbe verschwinden, weil unsere Hoffnung erloschen ist.

Hoffnung. Welch kleines Wort.

Und da geht er, an der Kette des Menschen. Fort, in eine hoffentlich bessere Welt ohne Stäbe. Welch Freude! Und doch Enttäuschung. Denn es war er und nicht wir.